Anklagegrundsatz im Strafbefehlsverfahren

Bekanntlich gilt der Anklagegrundsatz auch im Strafbefehlsverfahren. Dass sich auf die geschädigte Person auf die Verletzung des Anklageprinzips indirekt berufen kann, geht aus einem neuen Urteil des Bundesgerichts hervor (BGer 6B_910/2017 vom 29.12.2017).

Das Bundesgericht wirft dem Obergericht des Kantons Aargau vor, einen Beschuldigten freigesprochen zu haben, anstatt die (unbestrittene) Verletzung des Anklageprinzips zu korrigieren:

Die Sachverhaltsumschreibung des Strafbefehls muss den Anforderungen an eine Anklage genügen (Art. 353 Abs. 1 lit. c in Verbindung mit Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO). Mit anderen Worten sind an die Anklageschrift nicht geringere Anforderungen zu stellen, wenn sie von einem Strafbefehl herrührt (vgl. oben E. 2.3.1 f.; NIGGLI/HEIMGARTNER, in: Basler Kommentar zur StPO, 2. Aufl. 2014, N. 61a zu Art. 9 StPO; Urteil 6B_848/2013 vom 3. April 2014 E. 1.3.1). Die vorinstanzliche Folgerung – welcher sich der Beschwerdegegner 2 in seiner Beschwerdeantwort anschliesst -, wonach der zur Anklageschrift mutierte Strafbefehl nicht alle tatbestandsrelevanten tatsächlichen Elemente schildert und somit das Anklageprinzip verletzt, ist richtig.
Über die Gültigkeit des Strafbefehls und der Einsprache entscheidet das erstinstanzliche Gericht von Amtes wegen (Art. 356 Abs. 2 StPO). Ungültig ist ein Strafbefehl nicht nur bei formellen Mängeln, sondern auch bei inhaltlichen, namentlich wenn kein im Sinne von Art. 352 Abs. 1 StPO ausreichend geklärter Sachverhalt vorliegt (erwähntes Urteil 6B_848/2013 E. 1.3.2). Die Prüfung erfolgt vorfrageweise (Art. 329 Abs. 1 lit. b resp. Art. 339 Abs. 2 lit. b StPO). Daher besteht entgegen der Auffassung des Beschwerdegegners 2 noch kein Raum für eine Anwendung von Art. 340 Abs. 1 lit. b StPO, wonach die Anklage nach der Behandlung allfälliger Vorfragen in der erstinstanzlichen Hauptverhandlung nicht mehr zurückgezogen und unter Vorbehalt von Art. 333 StPO auch nicht mehr geändert werden kann. Ebensowenig ist das Immutabilitätsprinzip (Art. 350 Abs. 1 StPO) tangiert. Erachtet das erstinstanzliche Gericht den Strafbefehl für ungültig, hebt es ihn auf und weist den Fall zur Durchführung eines neuen Vorverfahrens an die Staatsanwaltschaft zurück (vgl. Art. 356 Abs. 5 StPO; erwähntes Urteil 6B_848/2013 E. 1.3.2 mit Hinweisen). Nachdem dies nicht geschehen ist, hätte die Vorinstanz den erstinstanzlichen Entscheid aufheben und eine bundesrechtskonforme Vervollständigung der Anklageschrift veranlassen müssen (vgl. Art. 409 Abs. 1 StPO). Dabei hätte sie die Rückweisung mit Feststellungen und allfälligen Vorgaben hinsichtlich der gestellten Beweisanträge verbinden können (Art. 409 Abs. 2 und 3 StPO). Ob die Vorinstanz als Berufungsgericht auch die Möglichkeit hatte, die Sache direkt an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen (dazu NIGGLI/HEIMGARTNER, a.a.O., N. 63b zu Art. 9 StPO), kann hier offen bleiben (E. 2.4. Hervorhebungen durch mich).
Die erfolgreichen Rügen des Beschwerdeführers fasst das Bundesgericht übrigens wie folgt zusammen:
Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz verletze Bundesrecht, indem sie den erstinstanzlichen Freispruch vom Vorwurf der Missachtung von Bestimmungen über die Tierhaltung mit der Begründung schütze, der Anklagesachverhalt sei mangelhaft umschrieben; aus der Anklageschrift gehe nicht hervor, was dem Beschuldigten konkret vorgeworfen werde. Da der Gegenstand des Verfahrens genügend bestimmt sei, bestehe kein Grund, auf die Abnahme der im kantonalen Prozess gestellten Beweisanträge zu verzichten. Dies sei nachzuholen und gestützt auf das Beweisergebnis in der Sache neu zu entscheiden (E. 2.1).
Ob das gut kommen wird?