Strafbare Polizeigewalt in St. Gallen?

Die Anklagekammer des Kantons St. Gallen wollte die von einem Geschädigten mit Strafanzeige verlangte Durchführung eines Strafverfahrens gegen zwei Polizisten verhindern. Das Bundesgericht kassiert den Entscheid (BGer 1C_427/2017 vom 15.12.2017).

Es hält die Grundsätze aus Art. 3 EMRK wie folgt fest:

Soweit sie nicht aufgrund des Verhaltens des Betroffenen unbedingt erforderlich ist (“strictement nécessaire”), beeinträchtigt die Anwendung körperlicher Gewalt durch Polizeibeamte die menschliche Würde und stellt grundsätzlich eine Verletzung von Art. 3 EMRK dar (vgl. Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [EGMR] i.S. Perrillat-Bottonet gegen Schweiz vom 20. November 2014, 66773/13, § 40 mit Hinweisen [angeblicher Bruch der Rotationsmanschette an der rechten Schulter bei Polizeieinsatz; Verletzung von Art. 3 EMRK verneint]). Leistet die betroffene Person Widerstand oder verhält sie sich gewalttätig, ist die Anwendung von Polizeizwang zulässig, sofern die Verhältnismässigkeit gewahrt bleibt. Wenngleich das Vorliegen von Wunden oder Verletzungen von besonderer Bedeutung ist, wurde die Anwendbarkeit von Art. 3 EMRK auch bei Quetschungen oder bei mehreren Beulen an einem Arm bejaht, von denen der Betroffene behauptet hatte, sie seien ihm bei der Festnahme von Polizisten rechtswidrig zugefügt worden (zur Zusammenfassung der Kasuistik vgl. das Urteil 1B_70/2011 vom 11. Mai 2011 E. 2.2.5.4 sowie die Beispiele bei JENS MEYER-LADEWIG, EMRK, Handkommentar, 4. Aufl. 2017, Rz. 23 zu Art. 3 EMRK) [E. 3.1].
Das Bundesgericht will den Fall untersucht haben:
Die Verletzungen, die der Beschwerdeführer durch den Polizeieinsatz vom 15. Februar 2017 unterhalb seines linken Auges erlitt, sind unstrittig. Bezüglich der Frage, wie er sich die festgestellten Verletzungen im Einzelnen zugezogen hat, stehen sich die gegenteiligen Aussagen des Beschwerdeführers und der zwei bei der Anhaltung beteiligten Beschwerdegegner gegenüber. Auf den vom Beschwerdeführer eingereichten Fotos ist zu erkennen, dass die Lippen und die Nase unverletzt blieben. Die Verletzungen unter dem Auge liessen sich daher mit einem Faustschlag plausibel erklären. Bei einem Schneidezahn fehlt tatsächlich ein kleines Stück. Angesichts des Verletzungsbildes kann demnach nicht von vornherein sicher ausgeschlossen werden, dass sich die Sache so zugetragen hat, wie der Beschwerdeführer behauptet. Hinsichtlich dieser Verletzungen erhebt er die Anschuldigung, die polizeiliche Behandlung ihm gegenüber verstosse gegen Art. 3 EMRK, somit in vertretbarer Weise. Unabhängig davon, dass die weiteren Schläge und Verletzungen nicht belegt sind, hat der Beschwerdeführer daher Anspruch darauf, dass dieser Vorwurf näher untersucht wird. Hierfür hätten insbesondere die Sanitäter der Ambulanz, die zufälligerweise am Ort des Vorfalls eintrafen, einvernommen werden müssen, ebenso die Personen, die den Beschwerdeführer später in der Klinik Stephanshorn behandelten. Diese und/oder eine kundige Fachperson hätten auch dazu befragt werden können, ob die Verletzungen des Beschwerdeführers mit der von den Beschwerdegegnern behaupteten “Zu-Boden-Führung” vereinbar sind. Weiter hätten die Unterlagen der Klinik über die Behandlung des Beschwerdeführers beigezogen werden müssen. Indem die Vorinstanz lediglich auf die Aussagen der Beschwerdegegner einerseits und des Beschwerdeführers andererseits abstellte, um die Entstehung der Verletzungen zu beurteilen, hat eine genügende Untersuchung der Vorwürfe des Beschwerdeführers jedoch nicht stattgefunden (vgl. zum Ganzen BGE 131 I 455 E. 1.2.6-E. 2.3 S. 463 ff.) [E. 4.2.5].
Am Ende wird natürlich keine Verurteilung stehen. Daran ändert aber nichts, dass solche Fälle untersucht werden müssen. Noch besser wäre, sie würden unabhängig untersucht. Aber so weit geht man in der Regel dann doch lieber nicht.