Vermeidbarer Verbotsirrtum

Das Bundesgericht kassiert den Freispruch einer Beschuldigten, die nachweislich nach dem Konsum von Marihuana ein Motorfahrzeug gelenkt hat. Die Vorinstanz sprach wegen Verbotsirrtums frei (SVG- und BetmG-Widerhandlung), weil der langjährige Arzt die Einnahme von Cannabis empfohlen hatte.  Es habe für die Beschuldigte keinen Grund gegeben, ihrem langjährigen Hausarzt zu misstrauen und seine Behandlungsmethoden in Frage zu stellen. Ihr könne daher nicht angelastet werden, dass sie diesbezüglich keine eigenen Abklärungen tätigte, sondern sich auf die von ihrem Arzt erhaltenen Informationen und deren Vollständigkeit verlassen habe.

Das Bundesgericht hält den Irrtum für vermeidbar und kassiert den Freispruch (BGer 6B_920/2015 vom 04.05.2016):

Nachdem der Arzt der Beschwerdegegnerin weder eine schriftliche Anordnung noch Unterlagen zur Dosierung, Anwendung sowie Nebenwirkungen ausgehändigt hatte und der ärztliche Rat gemäss ihren eigenen Aussagen lautete, sie solle sich das Cannabis besorgen, indem sie “danach frage”, hätte die Beschwerdegegnerin durchaus Grund gehabt, ihre Rechtsauffassung in Frage zu stellen. Eine entsprechende Auskunft hätte sie problemlos einholen können, beispielsweise bei der Heilmittel- oder den Strafverfolgungsbehörden [diesen Satz hätte das Bundesgericht wohl besser weggelassen]. Die Beschwerdegegnerin kann sich deshalb nicht darauf berufen, irrtümlicherweise davon ausgegangen zu sein, der Konsum von Marihuana sei allein gestützt auf die mündliche Empfehlung ihres Arztes legal. Die Vorinstanz verneint die Vermeidbarkeit des Irrtums zu Unrecht und verletzt damit Bundesrecht (E. 1.4.4, Klammerbemerkung durch mich).

Auch in Bezug auf die SVG-Widerhandlung hält das Bundesgericht den Irrtum für vermeidbar:

Die Beschwerdegegnerin wusste gemäss eigenen Angaben, dass Cannabis eine berauschende Wirkung hat und sie sich deshalb nicht unmittelbar nach dem Konsum ans Steuer setzen durfte (…). Aufgrund dessen kann sie sich auch nicht darauf berufen, sich auf die Vollständigkeit der Aufklärung durch den Arzt verlassen zu haben. Nachdem sie die Substanz ohne ärztliche Anordnung, und somit auch ohne Angaben hinsichtlich der Dosierung konsumiert hatte, durfte sie nicht ohne Weiteres davon ausgehen, das THC lasse sich am Folgetag nicht mehr nachweisen. Ihr Irrtum war vermeidbar. In Betracht fällt daher allenfalls die Verurteilung wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts, was die Vorinstanz zu prüfen haben wird. Damit erübrigen sich Ausführungen zu den weiteren, von der Beschwerdegegnerin in der Vernehmlassung vorgebrachten Einwänden wie etwa, ein Fahrlässigkeitsdelikt sei vom Anklagesachverhalt nicht gedeckt (E. 1.5.3).

Der Freispruch vor Obergericht ist fast nur durch eine hervorragende Verteidigung zu erklären. Dafür zahlt die Beschuldigte nun aber teuer. Wahrscheinlich wäre sie finanziell deutlich besser gefahren, wenn sie vor Obergericht verloren hätte. So wird sie Opfer eines gesetzlichen Konstruktionsfehlers, der gute Leistungen der Verteidigung abstraft.