Berufungsverfahren und Taterfolg vor Tathandlung?

Das OGer AG hat sich erneut über die Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Berufungsverfahren hinweggesetzt und dabei auch noch einen materiell-rechtlichen Fehler begangen. Wieso ein Gericht sich nicht einfach an Gesetz und Rechtsprechung hält, verstehe ich ebenso wenig wie den Umstand, dass es – ausser dem Bundesgericht – praktisch allen egal zu sein scheint.

Im aktuellen Fall heisst das Bundesgericht die Beschwerde eines (weiteren) Laien gut, der erfolglos auf ein mündliches Berufungsverfahren bestanden hatte (BGer 6B_1016/2019 vom 17.03.2020):

Die Rügen erweisen sich als begründet. Der angefochtene Entscheid verstösst in mehrfacher Hinsicht gegen Bundesrecht. Die Vorinstanz konnte vorliegend nach Eröffnung der Berufungsverhandlung nicht formlos und ohne Einverständnis des Beschwerdeführers in das schriftliche Verfahren wechseln. Das Berufungsverfahren ist nach der gesetzlichen Konzeption grundsätzlich mündlich (vgl. zuletzt: 6B_606/2018 vom 12. Juli 2019 mit Hinweisen) und der Beschwerdeführer hat ausdrücklich die Durchführung einer mündlichen Berufungsverhandlung beantragt. Auch hätte eine schriftliche Verfahrensfortführung und -beendigung, nachdem das Verfahren zuvor mündlich war, erfordert, dem Beschwerdeführer zur Wahrung des rechtlichen Gehörs die Eingaben der Zeugin an die Vorinstanz zur Kenntnis zu bringen und zu diesen Stellung nehmen zu lassen. Die Begründung der Tat- und Rechtsstandpunkte erfolgt im mündlichen Berufungsverfahren in Form der Parteivorträge erst nach Abschluss des Beweisverfahrens (vgl. Art. 346 i.V.m. Art. 405 Abs. 1 StPO). Dieses war zum Zeitpunkt der Unterbrechung der Berufungsverhandlung vom 26. November 2018 jedoch nicht abgeschlossen. Der Beschwerdeführer hatte weder die Möglichkeit sich dazu zu äussern, ob und inwieweit die “Rücktretung meiner [ihrer] Zeugenaussage” und das Einverständnis der Zeugin, “die Anklage zurückzuziehen und das Verfahren zu schliessen”, für die Beurteilung der von ihr zuvor gemachten Aussagen von Relevanz sind, noch konnte er vor Abschluss des Beweisverfahrens allenfalls erforderliche weitere Beweisanträge stellen (vgl. Art. 345 i.V.m. Art. 405 Abs. 1 StPO; 6B_389/2019 vom 28. Oktober 2019 E. 2.2.2; 1B_35/2018 vom 30. August 2018 E. 3.2). Mit dem unangekündigten Wechsel ins schriftliche Verfahren verletzt die Vorinstanz das Recht des Beschwerdeführers auf das letzte Wort (Art. 347 Abs. 1 StPO) und übersieht, das die schriftliche Urteilsverkündung vorliegend nur mit dessen Einverständnis möglich gewesen wäre (Art. 83 Abs. 3 StPO).  Der angefochtene Entscheid genügt auch nicht den gesetzlichen Begründungsanforderungen. Der Beschwerdeführer rügt zutreffend, dass die Vorinstanz im angefochtenen Urteil nicht darlegt, warum sie die Sache entgegen ihrer ursprünglichen Einschätzung ohne persönliche Einvernahme der Zeugin im Nachhinein als spruchreif erachtet. Dies ist auch nicht ersichtlich. Es wurden keine weiteren Beweise erhoben, die zum Nachweis des Anklagesachverhalts geeignet wären und die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Widersprüche in den Aussagen der Zeugin beseitigen. Die im Nachgang zur Hauptverhandlung vom 10. Dezember 2018 unternommenen Versuche, die Zeugin persönlich einzuvernehmen, belegen, dass die Vorinstanz eine Befragung für erforderlich hielt. Dass die Zeugin ihre privaten Belange höher gewichtete als ihre Zeugnispflicht, rechtfertigt vorliegend weder aus tatsächlichen noch rechtlichen Gründen (ohne Begründung), auf deren Einvernahme zu verzichten. Der Untersuchungsgrundsatz gilt auch uneingeschränkt im Rechtsmittelverfahren (vgl. Art. 6, 343 Abs. 3 i.V. Art. 405 Abs. 1 StPO; BGE 144 I 234 E. 5.6.2; 143 IV 214 E. 5.4). Zudem war die Zeugin während ihres einjährigen Auslandsaufenthalts wiederholt in der Schweiz und hätte demnach – allenfalls mittels Vorführung – einvernommen werden können (vgl. Art. 205 Abs. 1, Art. 207 Abs. 1 StPO). Eine rechtshilfeweise Befragung per Videokonferenz oder mittels schriftlicher Berichte hat die Vorinstanz nicht geprüft (vgl. Art. 55 Abs. 2, Art. 144, Art. 145 und Art. 148 StPO) [E. 3.1, Hervorhebungen durch mich].

In materieller Hinsicht gibt das Bundesgericht der Vorinstanz noch einen wertvollen Hinweis zum Zusammenhang zwischen Tathandlung und Taterfolg auf den Weg:

Unabhängig davon, welchen Sachverhalt die Vorinstanz nach prozessual ordnungsgemässer Durchführung und Beendigung des Berufungsverfahrens (vgl. Art. 2 Abs. 2 StPO) für erstellt hält, ist darauf hinzuweisen, dass ein Schuldspruch wegen Nötigung nicht damit begründet werden kann, der Beschwerdeführer habe die Zeugin an ihrer ursprünglich geplanten Fahrt gehindert und diese veranlasst, auf den Parkplatz eines Schnellrestaurants abzubiegen, indem er in ihr Fahrzeug hineingefasst habe (ohne die Zeugin zu berühren). Zum einen erscheint bereits fraglich, inwieweit das Verhalten eine (konkludente) Androhung ernstlicher Nachteile darstellen soll, und zum anderen übersieht die Vorinstanz, dass sich die Zeugin bereits auf der Abbiegespur eingeordnet hatte, als der Beschwerdeführer in das Auto gefasst hat, mithin der Taterfolg vor der Tathandlung eingetreten war (E. 3.2, Hervorhebungen durch mich).