Effizienz vor Recht?

Die Staatsanwaltschaft BS hat einen Fall vor Bundesgericht gezogen, mit der sie ihre völkerrechts- und gesetzeswidrige Praxis im Zusammenhang mit der Zustellung von Strafbefehlen an Personen mit bekannter Wohnadresse im Ausland absegnen lassen wollte. Damit ist sie jetzt aber gescheitert (BGE 1B_244/2020 vom 12.05.2021. Publikation in der AS vorgesehen).

Die von der Staatsanwaltschaft favorisierte generelle Standardformular-Lösung mit Zustellfiktion mag zwar aus ihrer Sicht durchaus verfahrenseffizient erscheinen. Sie widerspricht aber im vorliegenden Fall den bundesrechtlichen Vorschriften zum Schutz der Parteirechte von beschuldigten Personen (Art. 354 Abs. 1 lit. a StPO i.V.m. Art. 29a und Art. 32 Abs. 2-3 BV) sowie den einschlägigen völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz (Art. 14 Ziff. 1 i.V.m. Art. 1 Ziff. 1-3 RV-BRA und Art. 1 Abs. 1 IRSG). Der Ansicht der Staatsanwaltschaft, sie habe in der betreffenden Phase des Strafbefehlsverfahrens “nicht als staatliches Organ der Strafverfolgung” gewirkt, sondern lediglich als eine von der beschuldigten Person beauftragte “Domizilhalterin”, widerspricht der oben (E. 3.1) dargelegten einschlägigen Praxis des Bundesgerichtes (BGE 140 IV 82 E. 2.6 S. 86) [E. 3.5]. 

Die Vorschriften über die Eröffnung staatlicher Hoheitsakte im Ausland hält das Bundesgericht wie folgt fest:

3.2. Straferkenntnisse stellen staatliche Hoheitsakte dar, die gegenüber Parteien mit Wohnsitz im Ausland grundsätzlich auf dem Wege der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen förmlich zu eröffnen sind (vgl. Art. 63 Abs. 2 lit. a i.V.m. Art. 68 und Art. 77 IRSG). In der Schweiz dürfen ausländische Schriftstücke – mangels anderer staatsvertraglicher Regelung – nur an Personen unmittelbar mit der Post zugestellt werden, die im ausländischen Staat nicht selber verfolgt werden; ausgenommen auch von dieser direkten Zustellung sind Vorladungen (Art. 30 Abs. 1 IRSV). Eine unmittelbare postalische Zustellung an Personen mit Wohnsitz in der Schweiz erlaubt das Schweizer Recht ferner für ausländische Schriftstücke in Strafsachen wegen Übertretung von Strassenverkehrsvorschriften (Art. 30 Abs. 2 IRSV).   

3.3. Eine Ausnahme vom Erfordernis der rechtshilfeweisen Eröffnung von Straferkenntnissen auf dem Weg der Rechtshilfe bzw. des diplomatischen Verkehrs liegt vor, wenn zwischen der Schweiz und dem betroffenen ausländischen Staat eine (multi- oder bilaterale) völkerrechtliche Vereinbarung besteht, die eine vereinfachte direkte Zustellung von Straferkenntnissen an die im Ausland wohnhaften Parteien auf dem postalischen Wege zulässt (BGE 136 V 295 E. 5.1 S. 305 mit Hinweis; 124 V 47 E. 3a S. 50; Urteil 1C_236/2016 vom 15. November 2016 E. 3.2; s.a. BGE 143 III 28 E. 2.2.1 S. 32; 140 IV 86 E. 2.4 S. 89-91; 135 III 623 E. 2.2 S. 625-627; nicht amtl. publ. E. 3.2 von BGE 142 II 411; vgl. Sararard Arquint, in: Basler Kommentar Internationales Strafrecht, 2015, Art. 68 IRSG N. 1-7; Robert Zimmermann, La coopération judiciaire internationale en matière pénale, 5. Aufl., Bern 2019, Rz. 382). Nur im Geltungsbereich solcher staatsvertraglicher Regelungen kann sowohl auf die rechtsgültige Vereinbarung eines Zustelldomizils in der Schweiz (Art. 87 Abs. 2 StPO) verzichtet werden, als auch auf eine rechtshilfeweise Eröffnung des Straferkenntnisses (vgl. Sararard Arquint, in: Basler Kommentar StPO, 2. Aufl. 2014, Art. 87 N. 4; Brüschweiler/Nadig/Schneebeli, in: Zürcher Kommentar StPO, 3. Aufl. 2020, Art. 87 N. 2, 4). Eine unzulässige direkte postalische Zustellung begründet im Lichte des Völkerrechts einen Eröffnungsmangel (nicht amtl. publ. E. 3.2 von BGE 142 II 411). Wird ein Strafbefehl an einen im Ausland domizilierten Beschuldigten fehlerhaft zugestellt, beginnt die Einsprachefrist von Art. 354 Abs. 1 StPO erst nach rechtsgültiger Zustellung zu laufen (vgl. Gilliéron/Killias, in: Commentaire Romand CPP, 2. Aufl., Basel 2019, Art. 354 N. 12).  Der Vertrag vom 12. Mai 2004 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Föderativen Republik Brasilien über Rechtshilfe in Strafsachen (RV-BRA, SR 0.351.919.81) sieht für die förmliche Eröffnung von Verfahrensurkunden und Gerichtsentscheidungen in Strafsachen im jeweils anderen Staat ausschliesslich den Rechtshilfeweg vor (Art. 14 Ziff. 1 RV-BRA). Eine direkte postalische Zusendung von Straferkenntnissen an Parteien mit Wohnsitz im anderen Vertragsstaat (mit fristauslösenden Wirkungen) haben Brasilien und die Schweiz nicht vereinbart. Zu prüfen bleibt, ob im vorliegenden Fall eine fristauslösende Zustellung des Strafbefehls ohne rechtshilfeweise Eröffnung, schon gestützt auf das innerstaatliche Strafprozessrecht, rechtsgültig erfolgen konnte. 

Damit stellt sich u.a. die Frage, wieviele Strafbefehle, die zu Ausschreibungen geführt haben, noch gar nicht als eröffnet gelten können.