Strafreduktion nach Verletzung des Beschleunigungsgebots, Fragen zum Konfrontationsanspruch

Das Bundesgericht reduziert eine Freiheitsstrafe auf “Antrag” der Vorinstanz (Obergericht AG) gleich selbst um zwei Monate (BGer 6B_1003/2020 vom 21.04.2021, Fünferbesetzung).

Konkret zu beurteilen ist eine Verfahrensdauer von 12,5 Monaten zwischen Eröffnung des erstinstanzlichen Urteils und der Zustellung der Urteilsbegründung, da auf die vom Beschwerdeführer weiter geltend gemachten Verfahrensverzögerungen zwischen Anklageerhebung und erstinstanzlicher Hauptverhandlung sowie zwischen Berufungsbegründung und vorinstanzlichem Urteil mangels hinreichender Begründung nicht einzutreten ist. Bei den 12,5 Monaten handelt es sich um die Bruttoverfahrensdauer. Der Erstinstanz ist zuzugestehen, dass sie nach Eröffnung des Dispositivs das Urteil zu begründen hatte und dazu angesichts der zahlreichen Tatvorwürfe die 90-tägige Frist von Art. 89 Abs. 4 StPO ausschöpfen durfte. Vorwerfbar bliebe damit eine Verfahrensverzögerung von netto 9,5 Monaten. Allerdings nimmt die Rechtsprechung keine “Nettoabrechnung” vor. Zu berücksichtigen ist vielmehr eine Verfahrensdauer von über 12 Monaten, die im Ergebnis als Verfahrensverzögerung und damit als Verletzung des Beschleunigungsgebots zu qualifizieren ist. Wie die Vorinstanz ausführt, ist die Dauer von über einem Jahr für die Urteilsbegründung nicht nachvollziehbar und eindeutig zu lang (oben E. 3.2). Es kann ihr daher nicht gefolgt werden, wenn sie schliesst, diese Verletzung des Beschleunigungsgebots wiege im Lichte der gesamten Umstände aber nicht derart schwer, dass sie eine Strafreduktion rechtfertigen würde (angefochtenes Urteil S. 50). Bei einer als Verzögerung zu qualifizierenden Verfahrensdauer von über 12 Monaten kann es nicht mehr bei einer Feststellung im Dispositiv sein Bewenden haben (E. 3.3.4).

Spannend sind aber insbesondere die Feststellungen des Bundesgerichts zur Konfrontation. Die entsprechende Rüge der Gehörsverletzung wurde zwar abgewiesen bzw. zurückgewiesen. Wichtig sind aber die allgemeinen Ausführungen des Bundesgerichts zum Konfrontationsanspruch:

Damit eine hinreichende Konfrontation stattfindet, muss sich der Befragte an der Konfrontationseinvernahme inhaltlich nochmals zur Sache äussern, sodass die beschuldigte Person ihr Fragerecht tatsächlich ausüben kann (BGE 140 IV 172 E. 1.5 S. 176 mit Verweisung auf das Urteil 6B_369/2013 vom 31. Oktober 2013 E. 2.3.3). Dabei ist keineswegs erforderlich, dass die befragte Person ihre Angaben wortwörtlich wiederholt. Macht sie Angaben zur Sache, so darf im Rahmen einer Gesamtwürdigung auch auf die Ergebnisse der früheren Beweiserhebung ergänzend zurückgegriffen werden. Denn die Frage, ob bei widersprüchlichen Aussagen oder späteren Erinnerungslücken auf die ersten, in Abwesenheit des Beschuldigten erfolgten Aussagen abgestellt werden kann, betrifft nicht die Verwertbarkeit, sondern die Würdigung der Beweise (Urteile 6B_1133/2019 vom 18. Dezember 2019 E. 1.3.2; 6B_369/2013 vom 31. Oktober 2013 E. 2.3.3; je mit Hinweisen). Hingegen bleiben die in einer ersten Einvernahme in Verletzung von Art. 147 Abs. 1 StPO gemachten Aussagen nach Art. 147 Abs. 4 StPO unverwertbar, wenn sich die befragte Person im Rahmen einer späteren Konfrontation gar nicht mehr bzw. nicht frei und unbeeinflusst zur Sache äussert (vgl. BGE 143 IV 457 E. 1.6.1 ff. S. 459 ff.; Urteile 6B_76/2018 vom 15. Oktober 2018 E. 1; 6B_1035/2017 vom 20. Juni 2018 E. 1.3.3; 6B_321/2017 vom 8. März 2018 E. 1.5.2). Daher genügt es nicht, dass die befragte Person ihre früheren Aussagen auf blossen Vorhalt hin bestätigt. Werden Aussagen, welche die Befragten in Einvernahmen ohne Gewährung des Teilnahmerechts nach Art. 147 Abs. 1 StPO machten, in späteren Konfrontationseinvernahmen den Befragten wörtlich vorgehalten, so werden diese Aussagen im Sinne von Art. 147 Abs. 4 StPO unzulässigerweise verwertet (BGE 143 IV 457 E. 1.6.1 S. 459) [E. 2.2].