Anklagegrundsatz: Vorsatz oder Fahrlässigkeit?
Die Staatsanwaltschaft FR hat einen Beschuldigten wegen eines Vorsatzdeslikts angeklagt. Verurteilt wurde er dann wegen einer Sorgfaltspflichtverletzung (BGer 7B_1050/2023 vom 27.05.2025). Das Bundesgericht kassiert den Entscheid mit folgender Begründung:
2.4.2. Der Vorwurf, welchen die Polizeirichterin und in der Folge auch die Vorinstanz gegen den Beschwerdeführer erheben, unterscheidet sich entgegen der Ansicht der Vorinstanz nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht vom Vorwurf, welchen die Staatsanwaltschaft in der Anklage gegen den Beschwerdeführer formuliert hat. Während dem Beschwerdeführer in der Anklage zur Last gelegt wurde, er habe um die maximale Füllhöhe von 3 Metern gewusst und eine Überschreitung dieser und damit eine Gewässerverschmutzung in Kauf genommen, basiert der Schuldspruch der kantonalen Gerichte nicht mehr auf dem sicheren Wissen des Beschwerdeführers um die maximale Füllhöhe. Vielmehr werfen sie dem Beschwerdeführer vor, er sei seiner Prüfpflicht nicht nachgekommen und habe deswegen eine Sorgfaltspflichtverletzung begangen. Das ist nicht nur in rechtlicher, sondern auch in tatsächlicher Hinsicht etwas anderes. Der Beschwerdeführer musste somit nicht damit rechnen, sich gegen einen Fahrlässigkeitsvorwurf zur Wehr setzen zu müssen.
2.4.3. Daran ändert entgegen der Ansicht der Vorinstanz nichts, dass sich die Sachverhaltsfeststellung auf Beweise stützt, die sich aus den Akten ergeben und dass aus dem Vor- und Hauptverfahren bekannt gewesen sei, dass der Beschwerdeführer als erfahrener Landwirt um die unbewilligten Installationen gewusst habe. Der massgebliche Sachverhalt muss sich aus der Anklageschrift ergeben, was vorliegend mit Blick auf eine fahrlässige Deliktsbegehung nicht der Fall war. Es ist nicht zulässig, unter Rückgriff auf die Akten den Tatvorwurf in Abweichung von der Anklage zu definieren (vgl. Urteil 6B_431/2010 vom 24. September 2010 E. 3.3), weil ansonsten der Anklagegrundsatz ausgehöhlt würde.
2.4.4. Das Urteil beruht somit auf einem Tatvorwurf, der in der Anklage nicht erhoben wurde. Die Abweichung betrifft keinen untergeordneten Punkt, sondern den Kern des Tatvorwurfs, weshalb der Anklagegrundsatz verletzt und die Beschwerde begründet ist. Damit braucht auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers nicht eingegangen zu werden.
Der Entscheid ist bemerkenswert, da sich die Staatsanwaltschaften aus meiner Erfahrung mit klassischen Fahrlässigkeitsdelikten des Nebenstrafrechts (USG, GSchG etc.) nicht vertieft auseinandersetzen, sondern weitgehend den Polizeirapport abtippen. Mit der Folge, dass häufig unklar ist, ob Vorsatz oder Fahrlässigkeit vorgeworfen wird. Das Anklageprinzip ist bei solchen Strafbefehlen grundsätzlich häufig verletzt.
Bei der Verletzung des Anklageprinzips frage ich mich immer, ob der Beschuldigten gedient ist oder nicht, wenn ich es rüge. Als Verteidiger ist man darauf getrimmt, die Verletzung des ANklagekrundsatzes zu rügen. Wenn aber – wie im vorliegenden Fall vom BGer bereits in Aussicht gestellt – die Anklage einfach an die Vorinstanz zwecks Vebesserung zurückgewiesen wird, kann man es in den meisten Fällen gleich lassen. Gibt es dazu Meinungen?
Als Verteidiger würde ich die Verletzung des Anklagegrundsatzes immer rügen, da dessen Beachtung, also eine rechtskonforme Anklageschrift, eine positive Prozessvoraussetzung bildet (zumindest früher galt dies in Stein gemeisselt …), und eine der Voraussetzungen für eine wirksame Verteidigung bildet.
Hier scheint sich die Rechtsverletzung auf Vorsatz/Fahrlässigkeit zu beschränken (aber bezeichnend, dass ZWEI kantonale Gerichte PLUS die Staatsanwaltschaft dies „übersehen“ haben sollen).
Es gibt jedoch komplexe(re) Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft den Anklagegrundsatz verletzt, weil sie mangels hinreichenden konkreten Anhaltspunkten für eine/mehrere Straftaten gar keine rechtskonforme Anklageschrift zustande bringt, diese bloss auf Vermutungen und Spekulation ohne Beweisgrundlage basiert und entsprechend formuliert ist (gespickt mit „Eventuell“-Formulierungen, die eine wirksame Verteidigung verunmöglichen).
M.E. sollte deshalb grundsätzlich nie auf Verfahrensrechte verzichtet werden, die Beschuldigte schützen.
Und das BGer sollte, wenn erst ein Gericht die Verletzung des Anklagegrundsatzes feststellt, nicht nur für das mit verletzte Beschleunigungsgebot, sondern anhand einer Tabelle Strafminderung für Angeklagte/Verurteilte vorschreiben. Vielleicht könnte dies solche Schlampereien (stets zu Ungunsten der Angeklagten) etwas eindämmen.
Zudem sollten Justizvertreter bezüglich selbst verursachter Überlastung (wie hier) einfach den Mund halten.
Es ist schon aus fundamentalen Erwägungen angebracht, eine Verletzung des Anklagegrundsatzes zu beanstanden, um die Behörden zu einer konsequenten Wahrung dieses Gebots und damit zum Schutz grundlegender Verteidigungsrechte anzuhalten.
Gleichwohl sollte man sich nicht zu sehr von idealistischen Grundsätzen verführen lassen, sondern vielmehr, im Interesse des Mandanten, unter Berücksichtigung objektiver Kriterien (Chancen und Risiken) agieren.
1. Grund der Abweichung vom Anklagegrundsatz
Abweichender Sachverhalt: Verurteilt das Gericht den Beschuldigten aufgrund eines Sachverhalts, der zu wenig präzise umschrieben war oder über den in der Anklageschrift umschriebenen Sachverhalt hinausgeht, ist eine Rüge eher angezeigt. Eine solche Konstellation eröffnet für die Verteidigung taktische Möglichkeiten: Es kann sich die Gelegenheit bieten, u. a. durch gezielte (gegebenenfalls zuvor abgelehnte) Beweisanträge (erneut) mehr Einfluss auf die Sachverhaltsfeststellung zu nehmen. Eine unzureichende Sachverhaltsfeststellung der Staatsanwaltschaft eröffnet der Verteidigung eher potenzielle Angriffspunkte.
Andere rechtliche Würdigung: Wendet das Gericht ohne Gelegenheit zur Stellungnahme (Art. 344 StPO) einen anderen Straftatbestand oder z. Bsp. Vorsatz statt Fahrlässigkeit auf den angeklagten Sachverhalt an, ist die Sinnhaftigkeit der Rüge gut abzuwägen. Ein prozessualer Leerlauf kann dabei durchaus entstehen.
2. Objektive Kriterien für die Entscheidung:
Verjährung: Dies ist ein zentraler Aspekt, denn die Zeit arbeitet grundsätzlich zugunsten des Beschuldigten. Mit der Aufhebung des Urteils bleibt die Verjährungsfrist in Gang. Daher ist sorgfältig zu prüfen, ob die Tat im Verlauf des verlängerten Verfahrens resp. aufgrund des neuen, anzuwendenden Straftatbestands (noch schneller) verjähren könnte. Ist dies der Fall, kann die Rüge ein wirksames Mittel zur Verfahrenseinstellung werden. Das kann insb. im Nebenstrafrecht relevant werden (vgl. z. Bsp. Art. 93 SVG; vorsätzliche vs. fahrlässige Tatbegehung -> Busse und somit kürzere Verjährungsfrist).
Beweislage: Eine Neuverhandlung bietet die Chance, eine schwache Beweislage auszunutzen. Der Zeitfaktor kann die Beweiskraft (z. Bsp. Zeugenaussagen) mindern und die Position der Verteidigung stärken.
Verschlechterungsverbot (reformatio in peius): Mit der Rückweisung an die Vorinstanz entfällt das Verschlechterungsverbot gemäss Art. 391 Abs. 2 StPO. Eine härtere Strafe im zweiten Anlauf ist demnach ein reales Risiko, welches es zu beachten gilt.
Belastung des Mandanten: Die finanzielle und psychische Belastung durch eine Verfahrensverlängerung müssen gegen den potenziellen Nutzen abgewogen werden. Ein offenes Gespräch mit dem Mandaten über Chancen und Risiken ist unerlässlich.