Demonstrieren und Delinquieren
Im Zusammenhang mit der Blockade einer Brücke in Genf im Jahr 2022 ist eine Aktivistin wegen Nötigung (Art. 181 StGB) und Störung von Betrieben (Art. 239 StGB) verurteilt worden. Das Bundesgericht bestätigt in einem Grundsatzentscheid die Verurteilung (BGE 6B_112/2025 vom 21.08.2025, Publikation in der AS vorgesehen, Pressemitteilung).
Das Bundesgericht hat versucht, seinen Entscheid beschwerdesicher zu machen und betonte, dass die Beschwerdeführerin nicht wegen ihrer Teilnahme an der Kundgebung verfolgt und verurteilt wurde, sondern weil sie im Rahmen der Aktion zwei verschiedene Straftaten begangen hat. Sie konnte auch nichts daraus ableiten, dass die Polizei die Demonstration anfänglich nicht unterband.
Die 1. Strafabteilung des Bundesgerichts bestätigt in einem neuen Leitentscheid, dass es von Recht – jedenfalls vom Wesen der Demokratie und jenem der Rechtsstaatlickeit – nur wenig Ahnung hat, indem es wider die jahrzehntelange Rechtsprechung der ersten öffentlich-rechtlichen Abteilung – jener Abteilung, deren Kernkompetenz Grundfragen der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie bilden – entscheidet. In seiner Medienmitteilung schreibt die Strafabteilung des BGer: „Die Teilnehmenden hätten eine bewilligungsfähige Demonstration durchführen können oder etwa ihre Anliegen mit einer Volksinitiative geltend machen können.“
Beiden Argumenten hat die 1. ÖRA des BGer in seinem jüngsten Leiteintscheid (1C_28/2024 v. 8.10.2024) in aller Deutschlichkeit eine klare Absage erteilt. In E. 3.2 wird klargestellt, dass die Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit elementare Grundrechte der Meinungsbildung sind und daher insofern überhaupt erst die Voraussetzungen für die Durchführung einer Volksabstimmung, mithin einer Volksinitiative sind. Das 2. Argument der Strafabteilung ist damit klar falsch: „Die Meinungsäusserungs- und die Versammlungsfreiheit bilden eine zentrale Voraussetzung für die freie demokratische Willensbildung sowie die Ausübung der politischen Rechte und sind ein unentbehrlicher Bestandteil jeder demokratischen Verfassungsordnung. Kundgebungen bzw. Demonstrationen zeichnen sich gegenüber anderen Versammlungen insbesondere durch ihre spezifische Appellfunktion aus, d.h. durch das Ziel, die Öffentlichkeit auf ein Anliegen der Teilnehmenden aufmerksam zu machen […]. Die Besonderheit politischer Kundgebungen besteht unter anderem darin, dass sie zur demokratischen Meinungsbildung beitragen, indem auch Anliegen und Auffassungen in der Öffentlichkeit zum Ausdruck gebracht werden können, die innerhalb der bestehenden demokratischen Verfahren oder Einrichtungen weniger zum Ausdruck kommen (statt vieler BGE 148 I 19 E. 5.2 mit Hinweisen)“ (E. 2.3).
Im zitierten Leitentscheid wurde die Verweigerung der Bewilligung zur Benutzung der Kantonsstrasse von Klosters nach Davos als zu Unrecht erfolgt aufgehoben. Das Bundesgericht schreibt dazu in E. 7.3.8: „Es verhält sich insofern nicht grundlegend anders, als wenn etwa im Rahmen einer Sportveranstaltung, wie sie vielerorts stattfindet (z.B. Läufe oder Fahrradrennen), ein Strassenabschnitt (teilweise) gesperrt und von den Wettkampfteilnehmenden benützt wird […].
Stünde das Interesse des öffentlichen bzw. privaten Verkehrs einer über den Gemeingebrauch hinausgehenden Nutzung öffentlichen Grundes generell entgegen, könnte gesteigerter Gemeingebrauch im Rahmen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit kaum je bewilligt werden, zielt ein solcher doch meist auf publikums- und verkehrsreiche Flächen ab. Dies hätte zur Folge, dass die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, denen nach ständiger Rechtsprechung mehr als eine blosse Abwehrfunktion zukommt, ihres Leistungselements verlustig gingen. […] Bei der Ausübung ideeller Grundrechte ist eine Beeinträchtigung des Gemeingebrauchs oder anderer öffentlicher Interessen eher in Kauf zu nehmen als bei sonstigen Altivitäten […]. Hervorzuheben ist die besondere Bedeutung von Kundgebungen für die demokratisch-politische Meinungsbildung (vgl. BGE 148 I 19 E. 5.2; ZUMSTEG, a.a.O., Rz. 1 ff. mit Hinweisen) sowie die Legitimität des Bedürfnisses einer hohen Appellwirkung im Zusammenhang mit der Kritik am WEF (vgl. E. 4.3).
Damit erweist sich auch das 1. Argument der 1. bundesgerichtlichen Strafabteilung als falsch. Darf die Kantonsstrasse von Klosters nach Davos für eine Kundgebung für mehrere Stunden gesperrt werden, dann steht auch eine Sperrung der Mont-Blanc-Brücke in Genf für 1 h und 20 min unter dem Schutz der Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit.