Die Verhandlungstermine einer überlasteten Justiz
Zurzeit nutzen viele Gerichte die aktuelle Sommerpause – also früher als in den vergangenen Jahren – dazu, ihre Geschäftskontrollen und Erledigungsstatistiken im Hinblick auf das Jahresende aufzupeppen. Plötzlich scheinen überall Fälle aufzutauchen, die oft monatelang unbearbeitet blieben, nun aber um jeden Preis noch im laufenden Jahr verhandelt werden müssen. Januar 2026 ist auch dann zu spät, wenn das Verfahren bereits Jahre gedauert und die Verjährung trotzdem und offensichtlich kein Thema sein kann. Nach der Verhandlung wird der gerichtliche Zeitdruck bestimmt wieder erträglicher, zumal die gesetzlichen Begründungsfristen ja höchstens Ordnungsfristen sind.
Der Ansetzungseifer eines Richters ging kürzlich so weit, dass er mir ein Übernahmeverschulden vorgeworfen hat. Er sei schliesslich auch mal Anwalt gewesen und wisse, dass man ein Mandat nicht annehmen dürfe, wenn man bis Ende Jahr keine Kapazität und im November für eine einzige Hauptverhandlung kein freies Datum mehr habe. Man wisse ja, dass Hauptverhandlungen innert eines halben Jahres seit Eingang der Anklage durchgeführt werden müssen (was ich nicht wusste und was so auch schlicht nicht stimmt).
Eine andere Richterin hat mir beschieden, sie könne wegen ihres Teilpensums und wegen der beschränkten Gerichtssäle nur an einem bestimmten Wochentag verhandeln. Ich müsse meine Vorlesungen, die seit über einem Jahr an diesem Tag angesetzt sind, halt verschieben. Und sonst könne ich mich ja vertreten lassen (nein, nicht bei den Vorlesungen).
Wieder andere bestehen darauf, schriftlich zu begründen, wieso die vorgeschlagenen Termine nicht möglich sind und dies auch zu belegen. Bei Ferienabwesenheit wurde ich sogar schon aufgefordert, Flugtickets und Hotelbuchungen einzureichen.
Am dreistesten sind erfahrungsgemäss Teilzeit-Richterinnen, die überwiesene Strafbefehle zu beurteilen haben. Sie machen kurzen Prozess und setzen auch dann zur Hauptverhandlung an, wenn der Anwalt – oder noch besser der Klient – aus ausgewiesenen Gründen verhindert ist. Ein Anspruch auf Verschiebung besteht ja bekanntlich nicht. Die Rückzugsfiktion lässt grüssen.
Ich weiss, ich weiss, jetzt kommen natürlich die Vorwürfe, das sei alles Verteidigungstaktik und ich gebe natürlich zu, dass es durchaus Ziel sein kann, eine Verhandlung möglichst lange hinauszuschieben. Solche Fälle sind aber selten und vor allem sieht man es ihnen bereits auf den ersten Blick an (bspw. nahender Verjährungseintritt). Die Regel ist eine andere. Auch wir Anwälte wollen unsere Fälle zeitgerecht abschliessen und abrechnen. Im Gegensatz zu den Gerichten leben wir davon. Was wir aber auch wollen ist ein Rest an Autonomie über unsere Agenden oder – horribile dictu – unsere Ferien planen können.
Liebe Richterinnen und Richter, liebe Kolleginnen und Kollegen, ihr kennt die Kommentarfunktion, Feuer frei!
Augen auf bei der Berufswahl…
Dass mir ein Richter „Übernahmeverschulden“ vorwirft, weil ich im November keinen Slot mehr frei habe, ist charmant – vielleicht darf ich künftig meine Agenda mit dem Gerichtspräsidium abstimmen, bevor ich ein Mandat annehme?
Und die Rückzugsfiktion? Ein Geschenk des Himmels. Klient krank, Anwalt verhindert? Kein Problem, wir werten das als Absage durch Desinteresse. Effizienz muss sein. Weihnachten kommt schliesslich schneller als gedacht.
Meines Erachtens liegen der überlasteten Justiz zwei fundamentale Übel zugrunde, wobei das eine im Prinzip nichts anderes als ein Symptom des anderen ist: Einem in Rechtsstaatlichkeit gekleideten autokratischen System ist die Überlastung inhärent; die Bürger:innen lassen sich autokratische Entscheide – und das ist das, was sie an den Gerichten erleben – nicht bieten und ziehen den Fall weiter. Wir leben ja schliesslich in einem Rechtsstaat, zumindest ist es das, was uns die Justiz verkaufen will. Bei den Strafbefehlen ist das Problem gar noch schlimmer: Da sind es nicht einmal Richter:innen, die entscheiden, sondern die Strafverfolger selbst.
Diesem fundamentalen Übel liegt ein anderes zugrunde: Die narzisstische Selbstgerechtigkeit der Richter:innen. Denn was ist Autokratie anderes als narzisstische Selbstgerechtigkeit? – „Ich war auch mal Anwältin.“ „Man muss sich so organisieren, dass Vertretungen jederzeit möglich sind.“ (Das kann man gut sagen, wenn man nicht für die Infrastruktur zahlen muss, sondern selbstverständlich ist. Daher auch die Vorstellung, wir Anwält:innen sind alle Millionär:innen und müssten eigentlich gar nicht mehr arbeiten, so dass man schnell mal da 5‘000 und dort 10‘000 kürzen kann. Das tut uns ja nicht weh und lehrt uns Bescheidenheit; nein, das ist nicht selbstgerecht). Letzthin hat mir ein Richter mitgeteilt, dass er schon Mühe hätte, wenn ich in der Sache so hart sei, dann aber für meine persönliche Situation Verständnis verlange (meine Frau befindet sich seit dem 8.5.2025 wegen schwerer Krankheit in Spitalpflege, ich muss eben eine Nanny organisieren, Geld haben Anwält:innen ja ohnehin genug. Dass meine Kinder besondere Zuneigung und Aufmerksamkeit des verbleibenden Elternteils benötigen, auch darauf scheint die Justiz keine Rücksicht zu nehmen. Fairerweise ist der Richter dann doch über seinen Schatten gesprungen und hat mir eine nachperemptorische Frist gewährt), aber das Problematische ist die Verknüpfung meiner berufliche Rolle mit meiner persönlichen Situation.
@AN
Einem in Rechtsstaatlichkeit gekleideten autokratischen System ist die Überlastung inhärent
Ihr Punkt ist eigentlich offensichtlich, aber ich habe anscheinend jemanden gebraucht, der es so klar formuliert, damit auch ich es verstehe. Sie haben vollkommen recht. Einen willkürlichen Entscheid eines Taliban-Gerichts würde ja auch niemand weiterziehen, weil jeder weiss, dass das Gesetz dort nicht das Papier wert ist, auf dem es steht.
Ihrer Frau wünsche ich gute Besserung. Ihnen viel Kraft.
Vielleicht sollten angehende Juristen zunächst ein psychologisches Gutachten der KESB beibringen bevor als Anwalt praktiziert werden darf.