Nichtiger Strafbefehl?
Ein Strafbefehl ohne Sachverhalt ist nicht nichtig, sondern bloss ungültig (BGer 6B_968/2014 vom 24.12.2014):
Der Strafbefehl wurde von der zuständigen Behörde erlassen. Er enthält die Schuldsprüche mit detaillierter Angabe der angewendeten Gesetzesvorschriften und die ausgefällte Strafe, die Kostenentscheidung und die Rechtsmittelbelehrung. Hingegen fehlt der „Sachverhalt, welcher der beschuldigten Person zur Last gelegt wird“ (Art. 353 Abs. 1 lit. c StPO). Damit erweist sich der Strafbefehl vom 14. Dezember 2012 in diesem Punkt als „ungültig“ (Art. 356 Abs. 5 StPO; vgl. Urteil 6B_848/2013 vom 3. April 2014 E. 1.4) und wäre im ordentlichen Verfahren aufzuheben. Diese Ungültigkeit wegen Verletzung von Inhaltsvorschriften des Strafbefehls gemäss Art. 353 Abs. 1 lit. c i.V.m. Art. 325 Abs. 1 lit. f StPO führt indessen nicht zur Nichtigkeit. Diese Rechtsfolge kommt nur bei besonders schweren Rechtsverletzungen und damit nur in krassen Ausnahmefällen in Betracht (Urteil 6B_339/2012 vom 11. Oktober 2012 E. 1.2.1) [E. 1.4].
Im konkreten Fall ging es darum, dass der Beschwerdeführer die Einsprachefrist verstreichen liess. Die muss aber bei einem bloss ungültigen Strafbefehl gewahrt werden, denn sonst kann das Gericht nicht mehr feststellen, dass der Strafbefehl ungültig war (Art. 356 Abs. 2 StPO).
Es fragt sich dann natürlich, wie man die „ne bis in idem“-Wirkung dieses rechtskräftigen Strafbefehl später beurteilen will… Was könnte an einem Strafbefehl noch krasser falsch sein, als ein fehlender Sachverhalt?
Schludrige Arbeit verunmöglichte „ne bis in idem“ schon immer. Dasselbe gilt bei Eröffnungs- und Einstellungsverfügungen, die keinen Sachverhalt enthalten.
Mir erscheint der Sachverhalt eigentlich schon recht essentiell. Im Hinblick darauf, dass das Strafbefehlsverfahren ohnehin fragwürdig ist, sollte man den Beschuldigten zumindest bei klarem Fehlverhalten der Staatsanwaltschaft vor Rechtsverlust schützen. Meines Erachtens wird den Strafverfolgungsbehörden allzu viel Verantwortung abgenommen.
Das beste an diesem Entscheid ist allerdings die Kritik, nicht richtig zitiert zu haben (E. 2.2):
„2.2. Der Beschwerdeführer beruft sich auf den folgenden Auszug aus E. 1.4 des erwähnten Urteils 6B_848/2013:
„Die beschuldigte Person, die es unterlässt, eine gültige Einsprache zu erheben, verzichtet auf elementarste Verfahrensrechte […]. Damit ein solcher Verzicht aber wirksam ist, muss dieser in Kenntnis der Sach- und Rechtslage erfolgt sein […]. Dies ist offensichtlich nicht der Fall, wenn der beschuldigten Person im Strafbefehl den ihr zur Last gelegten Sachverhalt gar nicht angegeben wird.“
Der Beschwerdeführer zitiert den mittleren Textteil nicht vollständig. Er lautet: „Damit ein solcher Verzicht aber wirksam ist, muss dieser in Kenntnis der Sach- und Rechtslage erfolgt sein (vgl. hierzu Urteil 6B_152/2013 vom 27. Mai 2013 E. 4.4 mit Hinweisen; [Literaturhinweise].“ Die Frage des wirksamen Verzichts bezieht sich somit auf die im Klammerurteil zu entscheidende Frage der Rückzugsfiktion nach vorgängiger Einsprache.“
Nun ja, wenn man die entsprechende Vgl.-Erwägung 4.4 einmal nachliest, findet man dort:
„4.4 Grundsätzlich kann der Betroffene auf die ihm zustehenden Verfahrensrechte verzichten. Ein Verzicht auf verfassungsmässige Garantien ist aber nur verbindlich, wenn er in unmissverständlicher Weise und unter Bedingungen erfolgt, die keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass der Erklärende unbeeinflusst handelt und sich über die Tragweite seines Handelns bewusst ist (Frowein/Peukert, a.a.O., N 3 zu Art. 6 EMRK). Erforderlich ist in jedem Fall, dass der Verzicht unzweideutig vorliegt und nicht auf einer dem Fairnessprinzip widersprechenden Weise zustande gekommen ist. Der Verzicht muss nicht ausdrücklich erklärt worden sein; er kann auch konkludent erfolgen (Donatsch, a.a.O., 327 mit Hinweisen).“
Das wars. Hier gibt das Bundesgericht die allgemeinen Grundsätze der Verzichts-Rechtsprechung des EGMR wieder. Nirgendwo steht in dieser allgemeinen Erwägung etwas über eine Rückzugsfiktion. Auch bei Thommen ZStrR 04/2010 S. 388 ff., der neben dem erwähnten Bundesgerichtsentscheid in der Klammer zitiert wird, geht es a.a.O. um den konkludenten Verzicht durch Verstreichenlassen der Einsprachefrist…
Das scheint einer der Entscheide zu sein, bei dem die Begründung dem Ergebnis folgen musste.
Immerhin haben die Strafverfolger den Beschuldigten in diesem Verfahren einmal persönlich mit dem offenbar massgeblichen Sachverhalt konfrontiert. Das scheint ja längst nicht in allen Strafbefehlsverfahren der Fall. Aber wie soll er ohne genaue Sachverhaltsangabe überprüfen können, von welchem Sachverhalt nun definitiv ausgegangen wird und ob die „anwendbaren Gesetzesbestimmungen“ tatsächlich anwendbar sind darauf?
Aus der Prozessgeschichte zu lesen dürfte für die Frage „Ungültigkeit oder Nichtigkeit“ noch etwas anders mitgespielt haben: Wären solche Strafbefehle nichtig, könnten sämtliche im betreffenden Kanton per Strafbefehl nach eidgenössischer StPO Verurteilten kommen und ihre Strafregistereinträge löschen lassen, bezahlte Bussen und Geldstrafen zurückfordern und bei vollzogenen (Ersatz-)Freiheitsstrafen und gemeinnützigen Arbeitseinsätzen Entschädigungen verlangen…