Nötigung oder ausnahmsweise nicht?
Was das Bundesgericht als Nötigung qualifiziert und was nicht, weiss man nie so genau. Das hat zur Folge, dass man jeden nachteiligen Entscheid weiterzieht, wenn man sich das Risiko einer kostenfälligen (Teil-)Abweisung leisten kann. Insofern ist die Überlastung des Bundesgerichts, die wahrlich nicht zu übersehen ist, halt auch selbst gemacht.
Aktuelles Beispiel ist BGer 6B_1368/2023 vom 18.06.2023, in dem eine Schuldspruch wegen Nötigung kassiert wurde, der nach meiner Erinnerung in anderer Besetzung in vergleichbarer Konstellation vor nicht allzu langer Zeit abgewiesen wurde.
Die zweimalige Beschädigung des Fahrzeugs der Beschwerdegegnerin 2 durch den Beschwerdeführer im April 2016 und August 2019 erfüllt den Tatbestand der mehrfachen Sachbeschädigung im Sinne von Art. 144 Abs. 1 StGB. Die rechtliche Würdigung als mehrfache Sachbeschädigung ist vor Bundesgericht nicht angefochten. Massnahmen, die von Geschädigten zur Verhinderung weiterer, gleichgelagerter Straftaten ergriffen werden, fallen grundsätzlich nicht unter dem Tatbestand der Nötigung im Sinne von Art. 181 StGB. Das Unrecht wird vorliegend durch den entsprechenden Schuldspruch wegen mehrfacher Sachbeschädigung vollständig abgegolten. Weitere Tathandlungen des Beschwerdeführers im Sinne von Art. 181 StGB sind nicht ersichtlich. Das Schreiben des Beschwerdeführers an die Beschwerdegegnerin 2 vom 14. Juli 2020 erging vielmehr erst nachträglich, d.h. nachdem diese das Fahrzeug bereits seit September 2019 am neuen Ort parkiert hatte. Es bildete zudem Gegenstand eines separaten Schuldspruchs wegen versuchter Nötigung im Sinne von Art. 181 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB. Nötigungszweck des Schreibens vom 14. Juli 2020 war weiter nicht das Umparkieren des Fahrzeugs durch die Beschwerdegegnerin 2, sondern die Bezahlung der Schulden durch C.B. (vgl. dazu nachfolgend E. 4). Davon geht die Vorinstanz auch beim Schuldspruch wegen Nötigung aus, wenn sie festhält, das Umparkieren des Fahrzeugs sei nicht direktes Ziel des Beschwerdeführers gewesen, sondern er habe dies lediglich in Kauf genommen (vgl. angefochtenes Urteil E. 5.4.4 S. 28). Die Möglichkeit, dass ein Opfer wie vorliegend Massnahmen zum Schutz vor weiteren Straftaten ergreift, steht oft im Raum. Die vorinstanzliche Argumentation hätte eine kaum überschaubare Ausdehnung des Nötigungstatbestands zur Folge, da die Inkaufnahme solcher vom Täter nicht angestrebter Massnahmen „akzessorisch“ zur eigentlichen Tat und ohne Vorliegen weiterer Tathandlungen stets als Nötigung bzw. als versuchte Nötigung zu ahnden wäre. Die extensive Auslegung des Nötigungstatbestands von Art. 181 StGB durch die Vorinstanz ist auch mit dem im Strafrecht geltenden Bestimmtheitsgebot (vgl. oben E. 3.2.4) unvereinbar (E. 3.4).
Damit ich nicht falsch verstanden werde: ich halte diesen Entscheid für richtig. Ich ärgere mich darüber, dass die Rechtsprechung derart unberechenbar ist und sich nicht an messbaren Kriterien orientiert. In anderer Besetzung wäre dieser LU-Fall bestimmt anders beurteilt worden.
Solange es Ermessen gibt kann es keine Objektiven Kriterien geben
Aus meiner Sicht ist die Argumentation des BGer zwar in ihrer grundsätzlichen Vorsicht nachvollziehbar, geht im konkreten Fall aber an der Realität des Unrechts vorbei und ist juristisch mehr als nur fragwürdig.
Grundsätzliches Verständnis für die richterliche Zurückhaltung:
Zunächst ist dem BGer zuzustimmen, dass die Gefahr einer uferlosen Ausdehnung des Nötigungstatbestands (Art. 181 StGB) ständig besteht. Nicht jede vorhersehbare Reaktion eines Opfers auf eine Handlung darf automatisch als Nötigungserfolg gewertet werden. Zudem muss grundsätzlich jede einzelne Tathandlung für sich Art. 181 StGB erfüllen (BGE 141 IV 437, E. 3.2.2). Eine Ausnahme bildet hier das intensive Stalking (im i.S.v Nötigung), bei dem gemäss Lehre und Praxis eine Würdigung der gesamten Umstände erfolgt.
Warum die Argumentation im konkreten Fall versagt:
Trotz dieser berechtigten Vorsicht ist der Freispruch von der Nötigung nicht ohne weiteres nachvollziehbar. Warum?
Eventualvorsatz ist ausreichend und hier gegeben: Die Argumentation des Gerichts, der Täter habe das Umparkieren nicht als direktes Ziel verfolgt mag zwar zutreffen, verkennt jedoch, dass für die Nötigung Eventualvorsatz genügt. Wer systematisch das an einem bestimmten Ort abgestellte Fahrzeug einer Person zerstört, weiss um die psychische Zwangswirkung seines Tuns. Er muss damit rechnen, dass das Opfer sein Verhalten ändert, um weiteren Schaden abzuwenden, und nimmt dies für die Durchsetzung seiner Ziele (hier durch die Inschrift „PAY“ signalisiert) billigend in Kauf.
Der Vergleich zu Stalking entlarvt den Denkfehler: Die Logik des Gerichts bricht zusammen, wenn man sie auf einen Stalking-Fall anwendet. Ein Stalker, dessen Opfer aus Angst in eine andere Stadt zieht, verfolgt auch nicht primär das Ziel des Umzugs. Das Ziel des Stalkers ist nicht selten die Ausübung von Macht und Kontrolle. Der Umzug ist aber die direkte, erzwungene Folge seines Terrors, die er mindestens in Kauf nimmt. Nichts anderes ist hier geschehen: Das Umparkieren war nicht eine freie Schutzmassnahme, sondern die erzwungene Kapitulation vor dem systematischen Terror des Täters.
Verkennung des Grundsatzes der Idealkonkurrenz: Der Kernfehler des Urteils liegt in der Behauptung, das Unrecht sei durch die Verurteilung wegen Sachbeschädigung „vollständig abgegolten“. Dies missachtet den fundamentalen Grundsatz der Idealkonkurrenz.
Art. 144 StGB (Sachbeschädigung) schützt das Eigentum, Art. 181 StGB (Nötigung) hingegen die persönliche Willens- und Handlungsfreiheit. Dies sind zwei verschiedene geschützte Rechtsgüter. Indem das Gericht den Angriff auf die Freiheit für irrelevant erklärt, degradiert es das Opfer zu einem reinen Vermögensträger und negiert die erhebliche psychische Belastung und Einschränkung seiner Lebensführung.
Deliktsaufbau – Strafbarkeit vs Schuld: Hätte das BGer den Täter entlasten wollen, wäre ein rechtsdogmatisch eher vertretbarer – wenn auch ebenso gewagter – Weg ein anderer gewesen. Es hätte den Tatbestand und damit die Rechtswidrigkeit der Nötigung auf der Ebene der „Rechtswidrigkeit“ bejahen, aber auf der Ebene der „Schuld“ argumentieren können, dass das Unrecht der Nötigung im Verhältnis zur Sachbeschädigung so gering wiegt, dass es durch deren Bestrafung als mitabgegolten gelten kann. Auch dies wäre eine äusserste kühne These gewesen, aber sie hätte sich zumindest im Rahmen anerkannter Rechtsgrundsätze bewegt.
Der vom Gericht eingeschlagene Weg, den Tatbestand der Nötigung übermässig restriktiv auszulegen, stellt vielmehr einen Kurzschluss dar, der eben genau gegen das vom BGer eingebrachte Bestimmtheitsgebot verstösst und – wie @KJ zutreffend einwendet – die Vorhersehbarkeit der Rechtsprechung zu Art. 181 StGB aushöhlt.
Das liegt halt auch am eher unbestimmten Tatbestand der Nötigung und unserer vielleicht zunehmend narzisstischen Gesellschaft, wo schon ein kleines bedrängen oder „Unwohlsein“ (gerade sehr in) als strafrechtlich relevante Nötigung empfunden wird. Die Rechtsprechung bemüht sich zwar redlich, indem sie betont, dass die Nötigung keinen mimosenschutz vorsehe. Das hilft aber wahrscheinlich nur begrenzt, denn dass ein Fall von mimosenschutz vorliegt (und der beschuldigte freizusprechen ist) muss ja u.U. erst ein Gericht feststellen…