Raufhandel oder Angriff?
In einem zur Publikation in der Amtlichen Sammlung vorgesehenen Urteil (BGE 1297/2023 vom 12.09.2025) äussert sich das Bundesgericht zum Verhältnis zwischen den Tatbeständen des Raufhandels (Art. 133 StGB) und des Angriffs (Art. 134 StGB):
In der Lehre wird abweichend davon teilweise die Auffassung vertreten, die Angreifer seien lediglich wegen Raufhandels strafbar, wenn sich die angegriffene Seite nicht völlig passiv oder defensiv schützend verhalte, sondern sich tätlich zur Wehr setze (vgl. MAEDER, a.a.O., N. 7 und 16 zu Art. 134 StGB; STRATENWERTH/BOMMER, Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil I, 8. Aufl. 2022, § 4 N. 38 und 42, wobei die Autoren bei einem Angriff auf mehrere Personen für einen Schuldspruch im Sinne von Art. 134 StGB genügen lassen, dass die angegriffenen Personen teilweise passiv bleiben). Dem kann nicht gefolgt werden. Damit hätte selbst die rechtfertigende Notwehr des Angegriffenen (vgl. Art. 15 StGB) seitens der Angreifer eine mildere Bestrafung zur Folge. Dies überzeugt nicht. Es spricht nichts dagegen, dass hinsichtlich der gleichen tätlichen Auseinandersetzung in Bezug auf verschiedene Beteiligte einerseits der Tatbestand des Angriffs gemäss Art. 134 StGB und andererseits derjenige des Raufhandels im Sinne von Art. 133 StGB zur Anwendung gelangen kann. Sind sowohl die Tatbestandsvoraussetzungen von Art. 134 StGB als auch diejenigen von Art. 133 StGB erfüllt, geht Art. 134 StGB Art. 133 StGB angesichts der höheren Strafandrohung vor. Es besteht kein Grund, diejenigen Personen, die ursprünglich eindeutig Angreifer waren und klar als solche identifizierbar sind, weniger hart, d.h. lediglich wegen Raufhandels, zu bestrafen, weil sich die angegriffene Person tätlich zur Wehr setzt (vgl. DONATSCH/GRAF/JEAN-RICHARD-DIT-BRESSEL, a.a.O., S. 89). Selbst STRATENWERTH/BOMMER anerkennen, dass nicht einzusehen ist, weshalb der Umstand, dass sich die angegriffene „Partei“ tätlich wehrt, zu einer Herabsetzung des Strafrahmens führen soll (STRATENWERTH/BOMMER, a.a.O., § 4 N. 42) [E. 3.2.4].
Selbst STRATENWERTH/BOMMER!
Schade, die „Büchse“ der Landesverweisung hatte man bislang immer so schön vom Tisch, sobald das Opfer zurückgeschlagen hat (was es ja allermeistens irgendwie tat; vgl. Art. 66a Abs. 1 lit. b StGB).
Aus „Game Theory“-Perspektive hat das Bundesgericht keinerlei Anreiz, auf Entscheidungsspielraum zu verzichten. Jeder Verzicht würde seine eigene Entscheidungsmacht schwächen und zugleich zukünftige Entscheidungen erschweren, weil ein engerer Spielraum später konsequent eingehalten werden müsste.
Im konkreten Fall bedeutet das: Würde das Bundesgericht den Sachverhalt als Raufhandel qualifizieren, würde es sich selbst die Möglichkeit nehmen, die Ausschaffung frei zu beurteilen. Es hätte – mit Blick auf seine eigene institutionelle Position – schlicht nichts davon.
Argumente, die dem Bundesgericht grösseren Handlungsspielraum eröffnen, haben naturgemäss bessere Chancen, Gehör zu finden, als solche, die diesen Raum einengen.
Das zeigt sich besonders deutlich im Strafverfahren:
Die Staatsanwaltschaft argumentiert naturgemäss für mehr Entscheidungsspielraum ? dies stärkt das Gericht.
Die Verteidigung argumentiert strukturell für Begrenzung des Entscheidungsspielraums (z. B. mit Verwirkungs- oder Fristenargumenten) ? dies schwächt das Gericht.
Es überrascht daher nicht, dass die Staatsanwaltschaft häufiger „gewinnt“ – sie unterstützt das Gericht in der Maximierung seines eigenen Spielraums.