Wahrheitsfindung c. Föderalismus

Das Bundesgericht hatte in BGE 6B_553/2015 vom 18.01.2016 (Publikation in der AS vorgesehen) über die Verwertbarkeit von Beweismitteln (Blutprobe zur Bestimmung des Blutalkoholwerts) zu entscheiden, welche die Polizei in einem fremden Kanton erhoben hatte.

Das Bundesgericht äussert sich zunächst zur föderalistischen Struktur der Eidgenossenschaft:

Aus der föderalistischen Struktur des Bundesstaates folgt, dass die hoheitliche Gewalt der kantonalen Polizei grundsätzlich auf das eigene Kantonsgebiet beschränkt ist. Die Ausübung von Zwangsmassnahmen über den territorialen Wirkungskreis des eigenen Hoheitsgebiets hinaus in anderen Kantonen ist dem föderalen Bundesstaat grundsätzlich fremd (E. 2.1).

Entsprechend kommt das Bundesgericht zu Schluss, die Blutentnahme sei rechtswidrig gewesen:

Es trifft allerdings zu, dass die Polizeibeamten der Kantonspolizei St. Gallen auf dem Gebiet des Kantons Appenzell Ausserrhoden für die Anhaltung und Anordnung einer Blutprobe nicht zuständig waren. Insofern ist, wie die Vorinstanz zu Recht annimmt (…), die Kontrolle des Beschwerdegegners grundsätzlich rechtswidrig erfolgt (E. 3.2).

Weil diese Regeln ja aber nur den Staat und nicht den Einzelnen schützen, war die Blutprobe dennoch verwertbar:

Indes sind die Regeln über die Zuständigkeit nicht im Hinblick auf die Gewährleistung eines fairen Verfahrens aufgestellt worden. Die Zuständigkeitsordnung schützt nicht die Interessen der beschuldigten Person im Rahmen der Beweiserhebung, sondern dient der Wahrung der Souveränität des Kantons bei der Organisation der polizeilichen Aufgaben (…). Es lässt sich somit nicht sagen, die mit der Beweisregel geschützten Interessen des Beschwerdegegners hätten Vorrang gegenüber dem Interesse an der Wahrheitsfindung und es bedürfe der Unverwertbarkeit der erhobenen Beweise, um die Rechte des Beschwerdegegners zu wahren (…). Der Missachtung der Zuständigkeitsregelung ist daher weniger Bedeutung beizumessen als der Durchsetzung des Strafverfolgungsinteressses (…).

Das ist der Ansatz, der auch in der Lehre immer wieder vertreten wird, um Gültigkeitsvorschriften von blossen Ordnungsvorschriften unterscheiden zu können. Mich überzeugt dieser Ansatz nicht. Ich sehe jedenfalls nicht, wieso die Souveränität eines Kantons nicht zugunsten der Menschen wirken soll, die sich auf dem Hoheitsgebiet aufhalten. Staatliche Souveränität ist ja wohl nicht Selbstzweck.

Für das Bundesgericht war damit aber klar, dass bloss eine Ordnungsvorschrift verletzt wurde:

Vor diesem Hintergrund und unter Berücksichtigung der konkreten Umstände ist die Anhaltung und Kontrolle durch die örtlich unzuständige Polizei als Verletzung einer blossen Ordnungsvorschrift im Sinne von Art. 141 Abs. 3 StPO zu verstehen. Soweit die Vorinstanz annimmt, die dem Beschwerdegegner abgenommene Blutprobe sei zum Nachweis seiner Fahrunfähigkeit unverwertbar, verletzt das angefochtene Urteil somit Bundesrecht (E. 3.2).

Die Vorinstanz hatte die Souveränität ihres Kantons noch wichtiger genommen, aber das war dem Bundesgericht nicht so wichtig.