Weiterhin keine Privilegierung der Ersatzforderung
Gerichtliche Ersatzforderungen sind weiterhin nicht aus den beschlagnahmten Vermögenswerten zu decken (BGer 6B_1163/2023 vom 03.04.2025). Hingegen ist die „Ersatzforderungsbeschlagnahme“ aufrecht zu erhalten, bis sie durch eine SchKG-Massnahme ersetzt wird (was dann m.E. im Ergebnis doch wieder zur Privilegierung gereicht):
Von Amtes wegen bleibt mit Bezug auf die Ersatzforderung anzumerken, dass die direkte Verwendung eines beschlagnahmten Vermögenswerts zur Tilgung der Ersatzforderung gegen Bundesrecht verstösst. Die Vollstreckung einer Ersatzforderung hat vielmehr nach den Vorschriften des SchKG durch die entsprechend zuständigen Behörden zu erfolgen. Dies ergibt sich aus Art. 71 Abs. 3 Satz 2 aStGB (in der bis zum 31. Dezember 2023 gültigen, vorliegend einschlägigen Fassung; vgl. BGE 145 IV 137 E. 2.6 ff.; 129 IV 49 E. 5.3). Das Gericht hat im Endurteil daher lediglich über die Aufrechterhaltung der Ersatzforderungsbeschlagnahme zu entscheiden, die anschliessend nach Inkrafttreten des Urteils bestehen bleibt, bis sie durch eine Massnahme des Schuldbetreibungsrechts ersetzt wird (BGE 141 IV 360 E. 3.2; Urteile 7B_829/2023 vom 19. September 2024 E. 3.4.2; 6B_1354/2021 vom 22. März 2023 E. 4.5.2; 6B_1362/2020 vom 20. Juni 2022 E. 23.5.4; je mit Hinweisen). Indem die Vorinstanz definitiv über die beschlagnahmten Vermögenswerte entscheidet und einen Teil davon an die Ersatzforderung anrechnet (vgl. angefochtenes Urteil Dispositiv-Ziff. I.“3.c“ und I.“4″ S. 125), widerspricht ihr Vorgehen dem Grundsatz, wonach keine Privilegierung des Staates bei der Durchsetzung der Ersatzforderung besteht (E. 6.7.2).
Ihre kritische Anmerkung zur „Privilegierung“:
Ihre Überlegung, dass dies im Ergebnis doch wieder zu einer Privilegierung des Staates gereicht, ist nachvollziehbar und ein in der Praxis und Lehre oft diskutierter Punkt.
– De-jure-Gleichbehandlung in der Vollstreckung: Rein rechtlich gesehen wird der Staat im Vollstreckungsverfahren nach SchKG nicht privilegiert. Er muss seinen Anspruch wie andere Gläubiger auch im Rahmen der Zwangsvollstreckung durchsetzen.
– De-facto-Vorteil durch die Beschlagnahme: Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass die Vermögenswerte durch die strafprozessuale Beschlagnahme bereits „blockiert“ und für die staatliche Ersatzforderung „reserviert“ sind. Wenn dann das Betreibungsverfahren eingeleitet wird, sind diese spezifischen Vermögenswerte für andere Gläubiger, die möglicherweise erst später ihre Ansprüche geltend machen oder keine solche strafprozessuale Sicherungsmassnahme erwirken konnten, faktisch nicht mehr oder nur erschwert greifbar. Der Staat hat durch die frühzeitige Sicherung im Strafverfahren einen erheblichen praktischen Vorteil.
Das Bundesgericht versucht mit seiner Rechtsprechung einen Spagat: Einerseits soll die unrechtmässig erlangte Bereicherung effektiv abgeschöpft werden (wofür die Sicherstellung durch Beschlagnahme dient), andererseits sollen die Grundsätze des Zwangsvollstreckungsrechts gewahrt bleiben, indem die eigentliche Verwertung und Verteilung nach SchKG erfolgt. Die strafprozessuale Beschlagnahme dient also als „Brücke“ ins Vollstreckungsrecht, sichert dem Staat aber eine sehr starke Position für diese spezifischen Vermögenswerte.
Man könnte argumentieren, dass diese faktische Besserstellung des Staates als Empfänger der Ersatzforderung durch den Zweck der Ersatzforderung (Abschöpfung kriminell erlangter Vorteile, Wiederherstellung der Rechtsordnung) gerechtfertigt ist und nicht einer ungerechtfertigten Privilegierung im Sinne einer Bevorzugung gegenüber anderen zivilrechtlichen Gläubigern ohne vergleichbaren Hintergrund gleichkommt. Dennoch bleibt die von Ihnen angesprochene Spannung bestehen.
Potentielle Konflikte:
1. Eigentumsgarantie (Art. 26 BV; Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK – ZP I EMRK):
Das Bundesgericht hat im zitierten Urteil (6B_1163/2023) beispielsweise korrigierend eingegriffen, um eine Doppelbelastung zu vermeiden (Vorbehalt zugunsten von Zahlungen an Geschädigte, Erw. 6.6.1, 6.7.1) und die korrekte Anwendung des Vollstreckungsrechts sicherzustellen (keine direkte Verrechnung, Erw. 6.7.2). Solche Korrekturen dienen gerade der Wahrung der Verhältnismässigkeit und der Rechtsstaatlichkeit.
2. Recht auf ein faires Verfahren / Rechtsstaatliche Garantien (Art. 29 ff. BV; Art. 6 EMRK)
Die Tatsache, dass Vermögenswerte blockiert sind, bevor das SchKG-Verfahren im Detail greift, könnte die Verteidigungsmöglichkeiten im SchKG-Verfahren zwar faktisch beeinflussen, verletzt aber nicht per se Art. 6 EMRK, solange das Verfahren als Ganzes fair bleibt.
3. Gleichbehandlung / Diskriminierungsverbot (Art. 8 BV; Art. 14 EMRK i.V.m. einem anderen Konventionsrecht)
– Man könnte argumentieren, dass der Staat als Gläubiger der Ersatzforderung gegenüber anderen (privaten) Gläubigern des Beschuldigten privilegiert wird, da er durch die strafprozessuale Beschlagnahme einen leichteren Zugriff auf bestimmte Vermögenswerte erhält.
– Eine solche Ungleichbehandlung bedarf einer sachlichen Rechtfertigung. Diese könnte darin gesehen werden, dass die Ersatzforderung nicht eine „normale“ zivilrechtliche Schuld ist, sondern die Abschöpfung eines deliktischen Vorteils bezweckt. Die Herkunft und der Zweck der Forderung sind unterschiedlich.
– Der EGMR gewährt den Staaten einen erheblichen Ermessensspielraum bei der Ausgestaltung ihres Systems zur Bekämpfung der Kriminalität und deren finanziellen Folgen.
4. Willkürverbot (Art. 9 BV)
Das Vorgehen darf nicht willkürlich sein, d.h. es muss auf ernsthaften Gründen beruhen und nicht sachfremd oder offensichtlich unhaltbar sein (z.B. Die Ersatzforderung darf grundsätzlich nicht über den erlangten Vorteil hinausgehen). Die gesetzliche Regelung und die darauf basierende gerichtliche Praxis streben an, Willkür zu vermeiden.
Fazit:
Obwohl die von Ihnen angesprochene faktische Privilegierung des Staates durch die Ersatzforderungsbeschlagnahme existiert, ist es unwahrscheinlich, dass das System als solches generell gegen die Bundesverfassung oder die EMRK verstösst.
1. Die Massnahmen verfolgen ein legitimes Ziel (Abschöpfung von Deliktserträgen).
2. Sie stützen sich auf eine klare gesetzliche Grundlage.
3. Es gibt rechtsstaatliche Garantien und Rechtsmittel sowohl im Strafverfahren als auch im Vollstreckungsverfahren.
4. Gerichte, insbesondere das Bundesgericht bzw. Letzinstanzliche Gerichte, überprüfen die Anwendung dieser Instrumente auf ihre Verhältnismässigkeit und Rechtskonformität, wie der von Ihnen zitierte Entscheid zeigt. Es werden Korrekturen vorgenommen, um z.B. Doppelzahlungen zu verhindern oder die Vollstreckungsregeln einzuhalten.