Antizipierte Beweiswürdigung (ausnahmsweise) unzulässig

Das Bundesgericht kassiert die Verurteilung einer PW-Halterin zu einer Busse von CHF 370.00, weil die Vorinstanz nicht auf ein schriftliches Alibi abstellte und auf eine (erstinstanzlich nicht beantragte) Einvernahme des Alibis verzichtete (BGer 6B_680/2009 vom 11.12.2009):

Die Beschwerdeführerin sagte von Anbeginn aus, sie habe im Tatzeitpunkt nicht am Steuer des fraglichen Autos gesessen, da sie in München an ihrem Arbeitsplatz gewesen sei. Sie reichte hierzu eine schriftliche Bestätigung des Arbeitgebers ein. Die Vorinstanz begründet nicht, weshalb das Bestätigungsschreiben des Arbeitgebers nicht geeignet sein soll, Zweifel am Beweisergebnis zu erwecken. Wenn sie das Schreiben nicht als verlässlich erachtet, hätte sie den Arbeitgeber als Zeugen befragen bzw. rechtshilfeweise einvernehmen lassen müssen, auch wenn die Beschwerdeführerin im erstinstanzlichen Verfahren keinen entsprechenden Antrag gestellt hat. Die Auffassung der Vorinstanz, am Beweisergebnis hätte auch die Einvernahme des Arbeitgebers nichts geändert, weil die Aussagen aufgrund seiner Nähe zur Beschwerdeführerin ohnehin mit einer gewissen Zurückhaltung zu würdigen gewesen wären, ist mit sachlichen Gründen nicht haltbar. Denn ob die Aussage mit Zurückhaltung zu würdigen ist, lässt sich erst entscheiden, wenn der Arbeitgeber tatsächlich als Zeuge ausgesagt hat und seine konkreten Angaben vorliegen. Im Übrigen ist nicht auszuschliessen, dass auch eine bloss zurückhaltende Würdigung, die dem Arbeitsverhältnis Rechnung trägt, ausreichte, das an sich schwache Beweisfundament ins Wanken zu bringen.

Der Arbeitgeber hätte mit der Strafdrohung gemäss Art. 307 StGB (bzw. der analogen Bestimmung des deutschen Rechts) konfrontiert werden müssen. Zudem hätte mittels differenzierter Befragung der Wert des Alibis überprüft werden können, z.B., ob es Dritte gebe, welche die Beschwerdeführerin gesehen haben. Die Vorinstanz verletzt den Anspruch auf rechtliches Gehör, indem sie den Arbeitgeber der Beschwerdeführerin nicht als Zeugen befragt hat. Die Beschwerde erweist sich als begründet (E. 2.4).

Hätte die Beschwerdeführerin „in dubio“ gerügt, wäre sie wohl nicht durchgedrungen, was ich aus der Sachverhaltsdarstellung des Bundesgerichts schliesse:

Am 16. Oktober 2007, um 15.23 Uhr, wurde der Personenwagen D (Deutschland) Z. Nr. auf der Autobahn N 13 bei San Vittore/GR Richtung Chur von einer Radar-Geschwindigkeitskontrolle der Kantonspolizei Graubünden erfasst. Die nach Abzug einer Sicherheitsmarge von 6 km/h massgebende Geschwindigkeit betrug 108 km/h, wodurch die signalisierte Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h um 28 km/h überschritten wurde.

Als Halterin des Fahrzeugs ermittelte die Kantonspolizei Graubünden Frau Xa., wohnhaft in München. Nach dem in Frage kommenden Fahrzeuglenker befragt, machte sie von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch. Ein angefordertes Vergleichsfoto der Beschwerdeführerin, der Tochter von Xa., ergab eine Ähnlichkeit mit der Fahrzeuglenkerin gemäss Radarfoto. Die Beschwerdeführerin teilte zu einem späteren Zeitpunkt telefonisch mit, dass sie nicht Lenkerin des Fahrzeugs und im Tatzeitpunkt nachweislich bei der Arbeit gewesen sei. Ebenfalls angefordert wurde ein Vergleichsfoto der zweiten Tochter, Xb. Diese machte wie ihre Mutter von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch.

Aufgrund der Radarbilder, des Vergleichsfotos sowie der Wahrnehmungen des mit dem Fall befassten Polizeihauptmeisters in München, der zwischen der Beschwerdeführerin und dem Radarbild eine sehr grosse Ähnlichkeit bejahte, gelangte die Vorinstanz zur Überzeugung, dass die Beschwerdeführerin die Lenkerin des Fahrzeugs war (E. 1).

Die Vorinstanz muss den Fall neu beurteilen. Sie wird wohl gleich entscheiden.