Betteln in Genf
Das Bundesgericht kassiert die Verurteilung von drei Personen aus Rumänien, die in den Strassen von Genf der Bettelei nachgegangen und damit angeblich gegen kantonales Strafrecht (Art. 11A LPG/GE) verstossen hatten (u.a. BGE 6B_923/2024 vom 13.05.2025, Publikation in der AS vorgesehen).
Mit der Begründung bin ich trotz deepL überfordert.
Der Link zum BG-Urteil scheint nicht zu funktionieren (Meldung: „Dieser AZA-Entscheid ist in elektronischer Form nicht verfügbar.“)
@Anonym: Das BGer hat ihn scheinbar wieder vom Netz genommen.
Auf der Seite http://www.bger-update.ch ist eine (wohl mittels KI generierte) deutsche Zusammenfassung des Urteils zu finden: https://www.bger-update.ch/zusammenfassung/23887/
Der BGE ist übrigens hier abrufbar. Warum er von der offiziellen Plattform entfernt wurde, ist mir nicht ersichtlich; evtl. wegen Fehler.
Erlaube mir dennoch einige Anmerkungen – gut möglich, dass der BGE wieder erscheint:
In der Tat lässt sich die Begründung zum französischsprachigen Urteil nicht ohne Weiteres erschliessen. Die wesentlichen Erwägungen sind in E. 7 und E. 8 dargelegt.
Obwohl E. 7 wichtige rechtsstaatliche Mängel aufzeigt, war E. 8 (Verhältnismässigkeit) letztlich ausschlaggebend für die Gutheissung der Beschwerde und die Aufhebung der Verurteilung.
Grobe Zusammenfassung:
E. 7 befasst sich mit dem Legalitätsprinzip (Art. 7 EMRK – nulla poena sine lege certa), insb. mit der Frage, ob die verwendete kantonale Strafnorm (Art. 11A LPG/GE, „Betteln“) genügend bestimmt ist. Das BGer hält fest, dass der Begriff „unmittelbare Umgebung“ („aux abords immédiats“) zwar sehr unbestimmt ist, aber restriktiv (als „wenige Meter“) ausgelegt werden muss. Die Vorinstanz hat jedoch nicht hinreichend dargelegt, wie die konkreten Handlungen diese enge Auslegung im Einzelfall erfüllen. Daher wurde die Rüge bezüglich dieses Punktes teilweise gutgeheissen.
E. 8 behandelt die Verhältnismässigkeit der Sanktion (Art. 36 Abs. 3 BV und Art. 8 Abs. 2 EMRK). Das BGer kommt zum Schluss, dass die Verurteilung (Busse) unverhältnismässig war, weil die vorgeschriebenen, milderen administrativen Massnahmen (Wegweisung, Verwarnung) nicht in der gebotenen Stufenfolge angewandt wurden, bevor eine strafrechtliche Sanktion erfolgte.
Detaillierte Ausführung von E. 7: Verletzung des Legalitätsprinzips (Art. 7 EMRK) durch unbestimmte Normanwendung
In E. 7 setzt sich das BGer mit der Rüge des Beschwerdeführers auseinander, die kantonale Norm Art. 11A LPG/GE sei zu unbestimmt und verletze das Legalitätsprinzip.
1. Abweisung von Teilrügen:
Eine Verletzung von Art. 164 BV (Legalitätsprinzip in BV) wurde abgewiesen, da es um kantonales Polizeirecht ging und der Beschwerdeführer die Anwendbarkeit nicht substanziiert darlegte.
Eine Verletzung von Art. 1 StGB wurde ebenfalls verworfen. Das BGer betonte, dass im Rahmen der konkreten Normenkontrolle nur die angewandten Normteile geprüft werden. Für Begriffe wie „réseau organisé“ (organisiertes Netzwerk), die nicht Grundlage seiner Verurteilung waren, fehlte dem Beschwerdeführer das Rechtsschutzinteresse.
Bezüglich „vocation commerciale ou touristique prioritaire“ (vorwiegend kommerzielle/touristische Bestimmung) wurde auf eine öffentlich zugängliche Liste und einen Plan des Kantons Genf verwiesen, was der Bestimmtheit diene.
2. Kern der Gutheissung in E. 7: Der Begriff „aux abords immédiats“ (unmittelbare Umgebung)
Das BGer bestätigt, dass Art. 7 EMRK (nullum crimen, nulla poena sine lege) auch für kantonale Übertretungen gilt und klare, zugängliche sowie vorhersehbare Strafnormen verlangt.
Der Begriff „aux abords immédiats“ ist per se nicht exakt und legt keine Distanz fest.
Unter Verweis auf eigene frühere Rechtsprechung (BGE 149 I 248) und EGMR-Urteile (Tsvetkova, Lashmankin) wird festgehalten, dass solche Begriffe zwar nicht unzulässig sind, aber ihr Inhalt sich aus dem Kontext ergeben und funktionell/teleologisch (nach Sinn und Zweck) ausgelegt werden muss.
Kontextbezogene Auslegung für die relevanten Orte:
Geschäftseingänge: Schutz kommerzieller Interessen; Auslegung als „nicht mehr als einige Meter“ („quelques mètres“).
Haltestellen öffentlicher Verkehrsmittel: Gewährleistung Verkehrsfluss und Sicherheit; Auslegung ebenfalls „einige Meter“.
Märkte: Vergleichbar mit Geschäftseingängen; „einige Meter“ von Ein- und Ausgängen.
Fazit: Der Begriff grenzt im Wesentlichen einen Radius von „einigen Metern“ um die relevanten Orte ab.
3. Fehler der Vorinstanz bei der Anwendung (ungenügende Subsumtion):
Der entscheidende Mangel der Vorinstanz lag darin, dass sie nicht präzise dargelegt hat, wie sie die festgestellten Verhaltensweisen im Einzelnen unter die restriktiv ausgelegte Norm subsumiert hat.
Wo eine Distanz von „ca. 2 Meter“ festgestellt wurde, sah aber das BGer den Tatbestand als objektiv erfüllt an.
Bei unpräzisen Feststellungen wie „aux abords immédiats“ oder „à proximité immédiate“ ohne konkrete Distanzangaben war eine Überprüfung der Normanwendung nicht möglich. Eine Angabe wie „weniger als 10 Meter“ würde bei restriktiver Auslegung (wenige Meter) eher gegen die Erfüllung des Tatbestands sprechen.
Pauschale Erwägungen der Vorinstanz (z.B. Passanten mussten am Beschwerdeführer vorbeigehen) ersetzen die notwendige detaillierte Prüfung für jeden Einzelfall nicht.
Konsequenz aus E. 7: Für die Fälle, in denen die Sachverhaltsfeststellungen zu unpräzise waren, um die Erfüllung des (restriktiv ausgelegten) Merkmals „aux abords immédiats“ zu belegen, hätte die Verurteilung aufgehoben werden müssen.
Obwohl das BGer, hier also Mängel in der Anwendung des Bestimmtheitsgebots feststellt, weist es am Ende von E. 7 (Ziff. 7.9.3) bereits auf Aspekte der Zugänglichkeit der Norm für ausländische, analphabetische Personen hin, die im Zusammenhang mit der Verhältnismässigkeit (E. 8 ff.) relevant werden.
Detaillierte Ausführung von E. 8: Unverhältnismässigkeit der Sanktion (Art. 36 Abs. 3 BV, Art. 8 Abs. 2 EMRK)
In E. 8 kommt das BGer zum Schluss, dass die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen Bettelns unverhältnismässig war und somit Art. 36 Abs. 3 BV sowie Art. 8 Abs. 2 EMRK verletzt. Dies war der entscheidende Grund für die Gutheissung der Beschwerde.
1. Grundrechtlicher Schutz des Bettelns:
Der BGE hält fest, dass Betteln unter den Schutz der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV) und des Rechts auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) fällt und die Menschenwürde (Art. 7 BV) berührt. Ein (Teil-)Verbot stellt einen Grundrechtseingriff dar.
2. Prüfung der Verhältnismässigkeit:
Eine strafrechtliche Sanktion muss bekanntlich geeignet, erforderlich (mildestes Mittel) und zumutbar sein.
Das BGer betont die besondere Verletzlichkeit und Mittellosigkeit von Bettelnden, die oft aus reiner Not handeln.
Strafrechtliche Sanktionen, insb. Bussen, sind bei passivem Betteln (wie im vorliegenden Fall, kein aggressives Betteln) problematisch und dürfen nur als ultima ratio eingesetzt werden.
Entscheidend ist die vom BGer geforderte Stufenfolge von Massnahmen:
I. Polizeiliche Wegweisung (ordnungsgemäss dokumentiert) aus der Verbotszone beim ersten Verstoss.
II. Administrative Verwarnung mit Androhung einer Busse im Wiederholungsfall.
III. Busse erst beim dritten Vorfall (oder bei wiederholter Missachtung nach Verwarnung).
Diese vorgängigen administrativen Massnahmen sind eine zwingende Voraussetzung für die Verhängung einer Busse.
3. Fehlerhafte Anwendung der Massnahmen durch die kantonalen Behörden:
Die Vorinstanz hatte den Beschwerdeführer für einen ersten Vorfall zwar freigesprochen (mangels vorheriger Massnahme), ihn aber für spätere Verstösse verurteilt, weil er informiert gewesen sei und wiederholt gehandelt habe. Diese Argumentation überzeugte das BGer nicht.
Mängel bei der ersten polizeilichen Intervention:
Unklar sei, in welcher Sprache die Aufforderung, das Betteln zu unterlassen, erfolgte.
Die blosse Angabe „unmittelbare Umgebung eines Geschäfts“ genügte offenbar nicht, um sicherzustellen, dass der Beschwerdeführer die genauen (und wie in E.7 dargelegt, komplex auszulegenden) Anforderungen der Genfer Gesetzgebung verstand.
Die erste Intervention hatte bereits strafrechtlichen Charakter und war nicht die geforderte rein administrative Massnahme.
Es fehlte eine formelle Verwarnung mit Androhung einer Busse und Hinweis auf deren mögliche Umwandlung in eine Freiheitsstrafe.
Mängel beim Strafbefehl bezüglich des ersten Vorfalls:
Dieser Strafbefehl (trotz teilweiser Übersetzung ins Rumänische) war ungenau und enthielt im rumänischen Teil keinen Hinweis auf die Umwandlungsmöglichkeit der Busse.
Der Strafbefehl wurde dem Beschwerdeführer erst am 4. April 2023 zugestellt, also nach den letzten ihm vorgeworfenen Taten (23. März 2023). Er konnte somit nicht als vorgängige Warnung für diese späteren Taten dienen.
Allgemeine Sensibilisierungsmassnahmen der Polizei (z.B. Treffen mit Hilfsorganisationen) ersetzen die erforderlichen individuellen, vorgängigen administrativen Massnahmen nicht.
4. Unzureichender Schutz durch Art. 106 Abs. 2 StGB (Busse > Ersatzfreiheitsstrafe):
Das Argument, der Beschwerdeführer könne sich bei einer Umwandlung der Busse in eine Ersatzfreiheitsstrafe auf unverschuldete Zahlungsunfähigkeit berufen, wurde zurückgewiesen. Nach ständiger Rechtsprechung ist dies nur bei unverschuldeter Verschlechterung der finanziellen Lage nach der Verurteilung möglich, was bei von vornherein mittellosen Personen kaum greift.
„Mit der Begründung bin ich trotz deepL überfordert.“
Es beruhigt mich zu wissen, dass auch Sie nur mit Wasser kochen, wenns ums Übersetzen geht 😉
Leider nicht nur beim Übersetzen.