Freiheitsentzug oder Freiheitsentzug?

In Zürich ist ein Mann am 1. Mai 2011 zusammen mit über 500 weiteren Personen eingekesselt, abgeführt und anschliessend für 24 Stunden aus bestimmten Stadtteilen weggewiesen worden. Der Polizeikessel dauerte zweieinhalb Stunden, die anschliessende Festhaltung zur sicherheitspolizeilichen Überprüfung (!) weitere dreieinhalb Stunden.

Obwohl gegen den Mann nie ein Strafverfahren eröffnet wurde, hält das Bundesgericht dafür, die Massnahmen seien verfassungskonform gewesen (BGE 1C_230/2015 vom 10.04.2016, Publikation in der AS vorgesehen). Das war möglich, indem das Bundesgericht die Sachverhaltsrügen zurückwies und die Verhältnismässigkeit mit generellen Überlegungen bejahte. Schwer nachvollziehbar sind die Ausführungen zum Freiheitsenzug nach Art. 31 BV bzw. zu Art. 5 EMRK.

Zwar ist Art. 31 BV in weitem Masse Art. 5 EMRK und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) sowie des Bundesgerichts nachgebildet (BGE 136 I 87 E. 6.2.5 S. 107). Dies schliesst allerdings nicht aus, dass im Einzelfall bestimmte, die Bewegungsfreiheit einschränkende Massnahmen zwar als Freiheitsentzug im Sinne von Art. 31 BV einzustufen sind, nicht aber als Freiheitsentzug im Sinne der Minimalgarantie von Art. 5 EMRK. Während Art. 5 EMRK einen abschliessenden Katalog zulässiger Haftmotive beinhaltet (Ziffer 1 lit. a-f), bestimmt die Bundesverfassung insoweit nur, dass ein Freiheitsentzug einzig in den vom Gesetz selbst vorgesehenen Fällen rechtmässig sei und sofern er auf die im Gesetz vorgeschriebene Weise erfolge (Art. 31 Abs. 1 BV; vgl. E. dazu E. 3.3 hiervor). Der Katalog zulässiger Haftmotive gemäss Art. 5 Ziffer 1 lit. a-f EMRK gelangt dementsprechend nur dann zur Anwendung, wenn auch ein Freiheitsentzug im Sinne der Minimalgarantie von Art. 5 EMRK vorliegt (E. 3.6.1, Hervorhebungen durch mich).

Das heisst dann aber, dass der Schutz von Art. 5 EMRK stärker ist als derjenige von Art. 31 BV. Das müsste nach meinem Verständnis ja aber eher umgekehrt sein.

Immerhin bejaht das Bundesgericht einen Freiheitsentzug nach Art. 5 EMRK, hält aber gleich zwei Haftmotive (lit. b und lit. c) für erfüllt:

Die polizeiliche Festhaltung des Beschwerdeführers ist somit als im Sinne von Art. 5 Ziff. 1 lit. b EMRK zur Erzwingung der Erfüllung einer gesetzlichen Verpflichtung gerechtfertigt gewesen. Einer solchen Auslegung von Art. 5 Ziff. 1 lit. b EMRK entspricht auch der Gedanke, dass die Polizei – wenn sie wie vorliegend konkrete Hinweise hat, dass von einer Personengruppe eine ernsthafte Gefahr für Drittpersonen ausgeht – in der Lage sein muss, angemessene Massnahmen zum Schutz der gefährdeten privaten Interessen zu treffen. Nach Sinn und Zweck der Konvention darf nicht eine allzu restriktive Auslegung von Art. 5 Ziff. 1 lit. b EMRK dazu führen, dass die Polizei eine ernsthafte und konkrete Gefährdung von Grundrechten von Drittpersonen tatenlos hinnehmen muss (E. 3.6.4).

Zwar ist die präventive Festnahme von Personen und Personengruppen aufgrund eines allgemeinen Verdachts nicht zulässig. Unter den bereits beschriebenen Umstände erschien der Verdacht, dass der Beschwerdeführer eine Straftat begehen werde, allerdings hinreichend konkret, zumal auch Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK nicht derart restriktiv auszulegen ist, dass eine konkrete und ernsthafte Gefährdung von Grundrechten von privaten Drittpersonen durch zu erwartende Straftaten tatenlos hingenommen werden muss (E. 3.6.5).