Geld für einen Anwalt verlieren
In einem Interview mit der NZZ scheint sich der Präsident des Bundesgerichts für die Einführung eines Annahmeverfahrens einzusetzen, weil es sein Gericht ja eigentlich nur ausnahmsweise brauche:
Sie wollen ein Annahmeverfahren?
Dies zu entscheiden, wäre Sache der Politik. Wir haben schon jetzt in fast allen Bereichen zwei Instanzen mit Kollegialgericht. Man kann davon ausgehen, dass diese Gerichte sich um die beste rechtliche Lösung bemühen. Manchmal ist es nicht unbedingt nötig, dass das Bundesgericht auch noch ein Urteil fällt.
Sie wünschen sich also mehr Beinfreiheit?
Ja. Aber wir sind natürlich in der Schweiz, wo die Politik und auch die Bürger der Meinung sind, man soll bis zum Bundesgericht gehen können. Nun gut, wenn es um eine Busse von vierzig Franken geht und Sie vielleicht noch Geld für einen Anwalt verlieren wollen, dann kommen Sie zu uns. Kein Problem.
Damit meint der Präsident offensichtlich die Strafverteidiger, was er dann noch bekräftigt:
Warum haben die Fälle im Strafrecht so stark zugenommen?
Das ist keine exakte Wissenschaft. Aber 2011 ist die Schweizerische Strafprozessordnung in Kraft getreten. Davor war das kantonal geregelt. Das hat zur Belastung massgeblich beigetragen. Das wirkt sich bis heute aus: Die Strafverteidiger wissen inzwischen genau, wie die StPO funktioniert, und nutzen die zahlreichen Beschwerdemöglichkeiten. Das ist ein Punkt.
Vielen Dank, Herr Präsident, aber das ist jetzt fast zu viel der Ehre.
Das Problem: er hat absolut recht! Und eigentlich wissen es auch die Verteidiger. Aber ja, dies anzuerkennen hiesse, weniger Dossiers betreuen zu können (inkl. finanzielle Folgen) und wäre wohl definitiv zu viel der Ehre. Auch wieder verständlich.
@Anonym: Das hast Du jetzt aber sauber analysiert. So viel Sachverstand und Erfahrung beeindruckt mich.
Genau. Denn das BGer ist ja bekanntlich so spendabel bei der unentgeltlichen Rechtspflege, dass man als Anwalt hier wirklich viel verdienen kann
Nur weil die Arbeitslast steigt, soll man also weniger Rechte haben, damit weniger Beschwerden eingehen und dadurch die eigene Arbeitslast sinkt?
Abgesehen davon, dass ich stark bezweifle, dass Bundesangestellte tatsächlich acht Stunden am Tag arbeiten, kann es doch keine Lösung sein, die eigene Arbeitslast dadurch zu verringern, dass man den Bürgern gesetzlich weniger Rechte zusichert!
Sinnvoller wäre es, mehr Studienplätze in Jus zuzulassen. Sollte das nicht ausreichen, könnte man auch die Voraussetzungen für die Wahl von Richtern lockern oder mehr Assistenzstellen schaffen.
Ausserdem bin ich überzeugt, dass die Arbeit deutlich einfacher wäre, wenn die Akten vollständig digitalisiert wären – inklusive Möglichkeiten zur KI-Integration, Datenbanksuchen und ähnlichen Hilfsmitteln.
Hätte man zusätzlich (unverbindliche) „Bundesgerichts-Modelle“, zum Beispiel in Form eines „Strafmassrechners“, könnte man sich viel unnötiges Hin und Her sparen.
Ein vereinfachtes Beispiel für Sexualstraftaten könnte etwa so aussehen:
– Mindeststrafe: X Tage
– Alter des Täters: +X Monate
– Geständnis: –10 %
– Alter des Opfers: +X Monate
– Vertrauensverhältnis: +20 %
– Gezeigte Reue: –20 %
Solche Modelle könnte man bei Bedarf anpassen und hätte dadurch wesentlich weniger Aufwand. Die Urteilsbegründung liesse sich dann aus den Berechnungen mit Hilfe von Textbausteinen automatisch zusammensetzen.
Ich höre zwar oft das Gegenteil, aber ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass das BGer nicht mit solchen „Hilfsmitteln“ bereits arbeitet… Da braucht man gefühlt 100x länger…
Würde es nach mir gehen…
Ohh boy… Das BGer würde eine „digitalisierte Vorinstanz“ in Form einer Web-Applikation erhalten. Alle Akten werden anonymisiert veröffentlicht. Jeder Schweizer Bürger kann einen eigenen Entscheidvorschlag abgeben und kann die Vorschläge von anderen voten; die meist gevoteten werden erneut zur Rotation aufgestellt bis am Schluss ein Entscheid angenommen wird. Ganz oben würden sich die Parteien (wie in einem Forum) streiten.
Das würde das Engagement der Bevölkerung steigern; Beschwerdeführer würden sich 2x überlegen, ob sie ihre Akten öffentlich sehen wollen; Staatsanwälte würden sich 2x überlegen, ob sie ihre Spielchen veröffentlicht sehen wollen; Kosten wären durch Automatismen gesenkt. Falls jemand mit dem Entscheid nicht einverstanden wäre, kann man ihn trotzdem an einen menschlichen Richter weiterziehen, dieser hätte die Ideen und Vorschläge bereits parat 😉
Dein (superber) Vorschlag ist m.E. chancenlos, weil er zu mehr Einheitlichkeit in der Rechtsanwendung, zu viel Transparenz und damit weniger Korruption in der Rechtsprechung führte – also insgesamt die Manipulationsmöglichkeiten der Justiz und des Bundesgerichts empfindlich einschränken würde.
Die Äusserungen des BGer-Präsidenten offenbaren schon seine Gesinnung.
Ich glaube, das Bundesgericht verschliesst die Auge vor Selbstkritik.
Wenn sich die beiden Kammern mal absprechen würden, eine klare und insbesondere gesetzestreue Linie in der Rechtsprechung fahren würden, die es der Verteidigung ermöglicht, zuverlässig zu beurteilen wie die Chancen sind, dann würde die Anzahl an Beschwerden signifikant abnehmen.
Wenn man schaut, wie viele Fälle formell-rechtliche Fehler zum Gegenstand haben, die nicht auf die Kappe der Verteidigung gehen (nicht unverzüglich genehmigte Zufallsfunde, Siegelungsprobleme, mangelhafte Anordnung von Zwangsmassnahmen etc.), dann kann nicht ernsthaft behauptet werden, dass die Verteidigung da einfach die Finger davon lassen soll, auch wenn das Bundesgericht genau diese Fälle dann meistens rettet.
Das Bundesgericht kann froh sein, dass es wohl viele Verteidigungen gibt, die solche Fehler gar nicht erkennen. In diesen Fällen einfach klare, standhafte Grenzen zu setzen und nicht über Art. 141 Abs. 2 StPO jedes Vergehen noch retten zu wollen, würde die Falllast nochmals reduzieren. Dann hätten auch die unteren Gerichte klare Vorgaben, in welchen Fällen etwas noch verwertet werden kann und in welchen nicht. Doch das Bundesgericht weicht im Einzelfall teilweise massiv von seiner eigenen Rechtsprechung ab, nur um genau diesen Fall zu retten und vergisst dabei wohl, dass dieses Urteil dann wieder eine neue Angriffsfläche für dutzende neue Beschwerden bietet. Nur weil ein Fall nicht zum Leitentscheid erhoben wird, stützten sich die Strafbehörden und Strafverteidigung trotzdem darauf ab.
Dass man dem Klienten bei der Beratung dann noch mitteilen muss, die Chancen würden massgeblich von Faktoren wie dem Gerichtsschreiber und der Gerichtszusammensetzung abhängen zeigt, dass die Kritik an den Strafverteidigung zu kurz gefasst ist.
Und einen grossen Teil der Arbeitslast hat die Politik zu verantworten, insbesondere im Bereich des Landesverweises. Dort will jeder Betroffene halt noch 1-2 Jahre mehr gewinnen, auch wenn er weiss, dass er keine Chancen hat. Dies auf die bösen Anwälte abzuschieben, greift zu kurz.
Und wenn man dann noch das OGer Aargau mal auf Spur bringen würde, wären sicher nochmals 10% an unnötigen Beschwerden weg 😉
Die Kantonalen Instanzen sind gerade in kleinen Kantonen alles andere als Unabhängig würde das höchste Gericht nur noch in Annahmeverfahren urteilen wären die Bürger der Willkür vollkommen ausgeliefert, praktisch alle meine Laienbeschwerden wurden bisher gutgeheissen, der Staat und vorallem der Rechtstaat gibt es in den Kantonen nicht, Grundrechte sind Märchen, die man den Kindern aka Bürgern erzählt das Sie Nachts überhaupt noch schlafen können, von gut schlafen müssen wir sowieso nicht reden
Der grösse Kriminelle in diesem Land ist der Staat mit seinen Helfers Helfern niemand schädigt mehr Bürger als er und er kommt immer Strafrei weg
Ihrem letzten Absatz stimme ich vorbehaltlos zu und ergänze: Grossbanken, andere einflussreiche Konzerne und ihre Rechtsabteilungen kann man teilweise dazu zählen.
Vielleicht sollte man das Bundesgericht mit einer solchen Einstellung einfach abschaffen. Wir würden uns viel ersparen. Die Wahrheit (Tatfrage) will das Bundesgericht nicht kennen und nicht prüfen (ausser sie springt derart ins Gesicht, dass die Scham, sich darüber wegzusetzen zu gross wird – aber oft fehlt sogar diese Scham, wenn das Ergebnis einfach anders gewünscht wird). Rechtsfragen könnten auch die 8.-Semestrigen an den Unis für uns alle lösen (oder KI?). Wozu also der Aufwand für ein solches Gericht, das über 90% der Fälle nicht inhaltlich beurteilen will und das mehr Aufwand dafür verwendet, das Nichteintreten zu begründen, als dem Recht und der Gerechtigkeit (oho!) zum Durchbruch zu verhelfen. Im Zivilverfahren kann im Übrigen an den ersten Instanzen das Würfeln eingeführt werden. Da weiss man dann wenigstens, weshalb man verloren hat, und es gibt keinen Grund für einen Weiterzug. Zynisch? Pragmatisch? Desillusioniert.
Sind wir doch ehrlich richterliches Ermessen ist nichts anderes als die legitimierung der Willkür.
Die KI könnte bessere, und vorallem Rechtsgleichere Urteile, insbesondere unvoreingenommene unparteiischere Urteile fällen als jeder Richter der sich von seinen eigenen Moral- und Ethikvorstellungen leiten lässt welche meistens sein Parteibuch wiedergeben.
Schon gesagt?
Wenn man der Logik des BGer-Präsidenten bis zum Ende folgen würde, dann wäre ja die Abschaffung des Bundesgerichts die kostensparenstende Massnahme überhaupt.
Es gäbe dann keine einzige Beschwerde.
Die Auslastung des Bundesgerichts wäre signifikant reduziert, wenn sich die kantonalen Instanzen einfach nur [b]gesetzestreu[/b] verhalten und den Beschuldigten ihre Rechte aus StPO, Bundesverfassung und EMRK zugestehen würden.
Das beginnt bereits bei der Polizei, die bedenkenlos Urkunden fälscht und z. B. die Akteneinsicht im Ordnungsbussenverfahren verweigert, obwohl es dafür keine Rechtsgrundlage gibt. Weiter geht das an den Bezirksgerichten, die Zeugen nur nach dem Grad ihres Belastungseifers zur Hauptverhandlung vorladen und das Konfrontationsrecht des Beschuldigten systematisch einschränken oder ganz verweigern. Dabei wird auch schon mal die ein oder andere Urkunde gefälscht.
An den Obergerichten ist man dann nur noch darauf bedacht, den Vorinstanzen eine weisse Weste zu bescheinigen und den Sachverhalt irgendwie so passend zu machen, dass es für eine Verurteilung reicht. Wenn nötig mit ein bisschen Rechtsbeugung, denn man kann sich sicher sein, dass das keine Folgen hat. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nicht gegen «ihre» Leute.
Die «Gerichtsreporter» spielen dabei eine unrühmliche Rolle. Sie sind wirtschaftlich von den Gerichten abhängig, akkreditiert und stellen sicher, dass nichts an die Öffentlichkeit dringt, was ihren Brötchengebern schaden könnte.
Dabei wäre alles so einfach: der Polizei-Rapport muss dem Beschuldigten zugestellt werden, bevor die Zeugen (und er selbst) einvernommen werden; die Akteneinsicht erfolgt proaktiv, digital und automatisch ergänzend; ohne nachgewiesene Akteneinsicht ist keine Anklage möglich; alle Zeugen werden vorgeladen und können vom Beschuldigten ohne Wenn und Aber konfrontiert werden, ein Verzicht darauf ist nur ausdrücklich möglich; Beweisverwertungsverbote werden von Amts wegen beachtet; wird der Vorwurf der Urkundenfälschung oder der Rechtsbeugung im Amt erhoben, so wird das Verfahren bis zur Klärung durch einen ausserkantonalen Staatsanwalt eingestellt.
Einfach nur [b]ein faires Verfahren[/b].
Was die Altmedien stets verschweigen: Mehr als 50% aller Strafverfahren betreffen Strassenverkehrsdelikte. Die Justiz ist in diesem Bereich vor allem politischen Zielen verpflichtet. Es herrscht ein beklemmender Zwang, Verfahrensrechte einzuschränken und Verurteilungen um jeden Preis zu erreichen. Würde man die Strassenverkehrsdelikte vollständig in den Ordnungsbussenkatalog überführen, wären alle Gerichte, je nach Instanz sofort um 30-50 % entlastet.
Zum letzten Punkt: Bei den erstinstanzlichen Gerichten zu beurteilende Strafverfahren sind Strassenerkehrsdelikt höchstens im Bereich von ca. 20% zu finden. Daher ist ein „Verschweigen“ hier wohl eher falsch, da diese Zahl wohl auch (unangefochtene) Strafbefehle mit einrechnet, bei welchen SVG-Delikte wohl zahlenmässig effektiv einen grossen Teil ausmachen.
Aus Erfahrung denke ich, Sie analysieren (in den 4 oberen Absätzen) vieles zutreffend (den Rest kann ich nicht beurteilen).
M.E. bleibt nur die Veröffentlichung von Fällen mit erlittenem Unrecht. Alles andere ist erfolglos, die Justiz unfähig, sich selbst zu reinigen, die Politik schaut zu, viele Anwälte (und Verbände) auch.
Wollen wir uns der Rechtsstaatlichkeit annähern, sollten sich Einzelne engagieren – sie fällt uns nicht in den Schoss.
Vermutlich bleiben auch so die meisten Schweinereien im Dunkeln.
Die Strafverteidiger wissen inzwischen genau, wie die StPO funktioniert, und nutzen die zahlreichen Beschwerdemöglichkeiten.
Und was will Her BGer-Präsident genau? Dass die Strafverteidiger keine Ahnung haben sollen?
Ein Annahmeverfahren wäre eine fatale Aushebelung eines wirksamen Rechtsschutzes. Im dem ATSG unterstellten Sozialversicherungsrecht besteht mit den kantonalen Versicherungsgerichten nur eine einzige von den Durchführungsstellen für die Sozialversicherung bzw. den Sozialversicherungsträgern unabhängige gerichtliche Instanz (mit uneingeschränkter Befugnis zur Überprüfung des Sachverhalts und des Bundes-, kantonalen bzw. kommunalen Rechts mit beschränkter Überprüfung von Ermessensentscheiden) zur Verfügung. Das diesen vorgeschaltete Einspracheverfahren bzw. das Einwandverfahren ist versicherungsintern, wo entweder wiederum ein oder eine (manchmal sogar der oder die gleiche) Sachbearbeiter oder Sachbearbeiterin bzw. ein Jurist bzw. eine Juristin des Rechtsdiensts der Durchführungsstellen für die Sozialversicherung bzw. des Sozialversicherungsträgers entscheidet. Das Bundesgericht könnte seine Geschäftslast verringern indem es den durch es selbst verwässerten Anspruch auf rechtliches Gehör stärker durchsetzt, die verwässerte Pflicht zur Begründung von Entscheiden und Urteilen, einschliesslich der Begründung der Höhe der Parteientschädigung und Entschädigung von unentgeltlichen Rechtsbeiständen abweichend von der geltend gemachten Höhe) und die verwässerte Pflicht zur Feststellung des Sachverhalts durch die Verwaltung und Vorinstanz verschärft, die unsägliche antizipierte Beweiswürdigung einschränkt und die Sache konsequent zur Heilung an die Verwaltung oder Vorinstanz zurück weist anstatt zu „Wunderheilungen“ zu schreiten, bei denen die Beschwerden der Versicherten mit überraschenden neuen Begründungen des Bundesgerichts abgewiesen werden, sodass die Rückweisung für die Versicherten keine Verfahrenskosten bedeutet und Parteientschädigung für die Honorierung des Rechtsvertreters zugesprochen werden. Für die Verwaltung und für die Vorinstanzen muss durch diese Kosten ein ökonomischer Anreiz bestehen in sorgfältige Arbeit und in sorgfältig arbeitendes Personal bzw. in ein Qualitätssicherungssystem mit besserer Vier- oder mehr Augenkontrolle inklusive Lernen aus Fehlern zu investieren. Die mangelnde Qualität der Urteile der Vorinstanzen ist das Problem. Wenn man sich den Prozentsatz der vom Bundesgericht vollumfänglich oder teilweise gutgeheissenen Beschwerden gegen Urteile bestimmer kantonaler Versicherungsgerichte im Verhälntis zu den Beschwerden gegen Urteile dieser Versicherungsgerichte auf die das Bundesgericht immerhin eingetreten ist anschaut ist dieser trotz der Beschränkung der Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichts und dessen restriktiver Zurückhaltung bedenklich hoch. In manchen Geschäftsberichten von kantonalen Versicherungsgerichten wird das schöngerechnet indem Nichteintretensentscheide des Bundesgerichts als Bestätigung der kantonalen Urteile dargestellt werden, obwohl die Qualität dieser Urteile durch das Bundesgericht inhaltlich nicht überprüft wurde und die Versicherten in der Regel bei Beschwerden auf die das Bundesgericht nicht eingetreten ist nicht vertreten oder nicht durch eine rechtskundige Person vertreten wurden.