Abwesende Staatsanwaltschaft
Art. 337 Abs. 3 StPO sieht vor, dass die Staatsanwaltschaft in den meisten Fällen nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen und ihre Anklage vertreten muss (was eigentlich niemand versteht):
Beantragt [die Staatsanwaltschaft] eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr oder eine freiheitsentziehende Massnahme, so hat sie die Anklage vor Gericht persönlich zu vertreten.
Was die Staatsanwaltschaft nicht muss, das tut sie in aller Regel auch nicht. Das schont die Ressourcen und führt erst noch dazu, dass der Richter nolens volens auch die Rolle des Anklägers einnimmt. Praktisch ist aus Sicht der Staatsanwaltschaft auch, dass sie Rechtsmittel auch dann ergreifen kann, wenn sie an der Verhandlung gar nicht teilnahm.
Im Berufungsverfahren gelten grundsätzlich dieselben Regeln. Falls die Staatsanwaltschaft aber Berufung oder Anschlussberufung führt, muss sie zur Berufungsverhandlung vorgeladen werden (Art. 405 Abs. 3 lit. a StPO). An diese Regel hat sich das Obergericht ZH neulich nicht gehalten, was ihm nun eine Rückweisung durch das Bundesgericht einbrockt (BGer 7B_1341/2024 vom 28.11.2025). Gerettet hat sie erstaunlicherweise auch nicht der Umstand, dass die Verteidigung die Abwesenheit der Staatsanwaltschaft erst vor Bundesgericht gerügt hat:
Die Staatsanwaltschaft war an der Berufungsverhandlung nicht anwesend. Sie hat vor erster und zweiter Instanz für den Beschwerdeführer 2 Strafen von über einem Jahr Freiheitsstrafe beantragt und hätte daher zwingend zur Berufungsverhandlung vorgeladen werden müssen (Art. 405 Abs. 3 lit. a in Verbindung mit Art. 337 Abs. 3 StPO). Die obligatorische Anwesenheit der Staatsanwaltschaft an der Berufungsverhandlung in den Fällen von Art. 337 Abs. 3 StPO ist Ausdruck des Anspruchs auf ein faires Verfahren. Sie dient dazu, in wichtigen Fällen von schweren Straftaten, bei denen den beschuldigten Personen empfindliche Sanktionen drohen, die Waffengleichheit der Parteien zu gewährleisten und zu verhindern, dass das Gericht die Rolle des Anklägers einnimmt (SARAH WILDI, in: Basler Kommentar StPO, 3. Aufl. 2023, N. 3 f. zu Art. 337 StPO; FINGERHUTH/GUT, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, Donatsch/Lieber/Summers/ Wohlers [Hrsg.], 3. Aufl. 2020, N. 9 zu Art. 337 StPO). Vor diesem Hintergrund und angesichts des klaren Wortlauts von Art. 337 Abs. 3 StPO kann diese Anwesenheitspflicht daher auch unter dem Gesichtspunkt der stetig steigenden Geschäftslast der Strafverfolgungsbehörden nicht im Ermessen der Strafjustizbehörden liegen, zumal die Anzahl von Strafverfahren, in welchen eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr ausgesprochen wurde, in den Jahren 2020 – 2024 lediglich rund 4.5 % der statistisch gesamthaft registrierten Straffälle ausmachten (vgl. BUNDESAMT FÜR STATISTIK, Erwachsene: Verurteilungen für ein Vergehen oder Verbrechen nach Art und Dauer der Hauptstrafe, Schweiz und Kantone [ab 2007], abrufbar unter: https://www. bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kriminalitaet-strafrecht/strafjustiz.assetdetail.35348227.html, [zuletzt besucht am 28. November 2025]).
Der Beschwerdeführer 2 hat gemäss dem angefochtenen Urteil nichts gegen die Abwesenheit der Staatsanwaltschaft an der Berufungsverhandlung eingewendet. Dies ist indessen, wie auch bei der Frage, ob eine Verfahrenspartei auf ein mündliches Verfahren gemäss Art. 406 StPO verzichten kann, nicht entscheidend (vgl. hierzu BGE 147 IV 127 E. 2.2.3, wonach die Zustimmung zu einem schriftlichen Verfahren die gesetzlichen Voraussetzungen von Art. 406 Abs. 2 lit a und b StPO nicht zu ersetzen vermag). Beschuldigte Personen sind grundsätzlich nicht verpflichtet, sich im Hinblick auf einen geordneten und redlichen Verfahrensablauf nach Treu und Glauben zu verhalten bzw. mit den Behörden zusammenzuarbeiten (MARCUS STADLER, Verwirkung wegen Treu und Glauben?, 2022, S. 297.). Der Beschwerdeführer 2 musste das Berufungsgericht nicht auf die fehlende Anwesenheit der Staatsanwaltschaft aufmerksam machen. Vielmehr steht die Strafrechtspflege einzig den vom Gesetz bestimmten Behörden zu (Art. 2 Abs. 1 StPO) und können Strafverfahren nur in den vom Gesetz vorgesehenen Formen durchgeführt und abgeschlossen werden (Art. 2 Abs. 2 StPO). Zur Form des Berufungsverfahrens gehört es, dass das Gericht die Anwesenheit der zwingend erforderlichen Personen sicherstellt (Art. 201 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 335 ff. StPO). Es hat die zur Berufungsverhandlung notwendigen Personen vorzuladen (Art. 403 Abs. 4 in Verbindung mit Art. 405 StPO). Angesichts dieser im Wortlaut klaren gesetzlichen Grundlage und mit Blick auf die vorgenannten Grundsätze verletzt daher der Verzicht auf die Vorladung der Staatsanwaltschaft trotz deren gesetzlich vorgesehener Anwesenheitspflicht an der Berufungsverhandlung Art. 337 Abs. 3 in Verbindung mit Art. 405 Abs. 3 lit. a StPO. Die Beschwerde ist gutzuheissen und die Sache zur neuen Beurteilung und zur Wiederholung des Berufungsverfahrens an die Vorinstanz zurückzuweisen (E. 3.3, Hervorhebungen durch mich).
Das ist doch jetzt ziemlich spektakulär, was bestimmt auch der zitierten Dissertation zu verdanken ist, deren Verfasser als Gerichtschreiber am Bundegericht tätig ist.