Das Gesetz und seine Leerformeln

Nach einem neuen Urteil des Bundesgerichts ist es die Justiz, die darüber entscheidet, ob und unter welchen Umständen eine ausdrücklich im Gesetz stehende Bestimmung – hier einmal mehr der an sich an Klarheit nicht zu überbietende Art. 344 StPO – beachtlich ist (BGer 6B_960/2025 vom 08.05.2025):

3.3.2. […]. Ein Würdigungsvorbehalt nach Art. 344 StPO soll die Partei vor Überraschung und Überrumpelung schützen. Entscheidend ist deshalb, ob der Beschwerdeführer damit rechnen musste, dass der angeklagte Sachverhalt als Versuch eines qualifizierten Raubes nach Art. 140 Ziff. 3 StGB beurteilt wird, und sich entsprechend hat verteidigen können (vgl. BGE 126 I 19 E. 2d/bb).  

3.3.3. Davon ist vorliegend auszugehen. Dem Beschwerdeführer wird in der Anklageschaft ein in Mittäterschaft versuchter Raub vorgeworfen. Weil die Staatsanwaltschaft den Beschwerdeführer als denjenigen identifiziert, der zugestochen haben soll, würdigt sie dessen Verhalten als versuchten Mord und zugleich als versuchten einfachen Raub gemäss Art. 140 Ziff. 1 StGB. Das Verhalten des Mittäters, der nicht zugestochen haben soll, beurteilt sie hingegen als versuchten qualifizierten Raub gemäss Art. 140 Ziff. 3 StGB. In dieser Konstellation ist offenkundig, dass der Versuch eines qualifizierten Raubes beim Beschwerdeführer in der Qualifikation als versuchter Mord aufgeht. Er musste deshalb damit rechnen, dass er wegen versuchten qualifizierten Raubes verurteilt werden könnte, sollte ein Tötungsdelikt verneint werden. Eine Bekanntgabe der abweichenden rechtlichen Würdigung hätte denn auch nichts an der Verteidigungsstrategie des Beschwerdeführers geändert, der seine Täterschaft während des gesamten Verfahrens durchwegs bestritten hat (vgl. Urteil 6B_941/2018 vom 6. März 2019 E. 1.3.4). Der Beschwerdeführer bringt hierzu einzig vor, ihm sei die Möglichkeit genommen worden, seine Berufung angesichts der abweichenden Würdigung zurückzunehmen, womit es bei der erstinstanzlichen Verurteilung wegen versuchten einfachen Raubes geblieben wäre. Dabei übersieht er – wie bereits unter dem Titel des Verschlechterungsverbots -, dass er von der ersten Instanz für diesen Sachverhaltskomplex zugleich wegen versuchter vorsätzlicher Tötung verurteilt wurde. Ein Rückzug der Berufung beschränkt auf die Verurteilung des einfachen Raubes wäre angesichts des engen Zusammenhangs der beiden Schuldsprüche nicht möglich gewesen.  

Insoweit würde auch eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vorliegend nicht zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils führen, da dies einem prozessualen Leerlauf gleichkäme (vgl. Urteil 6B_941/2018 vom 6. März 2019 E. 1.3.4). 

Eine Frage sei erlaubt: wenn das alles so ist wie es dargestellt ist, was hindert ein Gericht daran, diesen gesetzlich ausdrücklich vorgeschriebenen Würdigungsvorbehalt einfach zu machen?