Eröffnungsbegriff: materiell oder formell?

Das Obergericht AG hat eine Einvernahme angeblich zu Unrecht als unverwertbar i.S.v. Art. 147 Abs. 4 StPO qualifiziert, wird nun aber vom Bundesgericht eines Schlechteren belehrt (BGer 6B_801/2024 vom 08.05.2025, Fünferbesetzung).

Der Entscheid des Bundesgerichts ist entweder im Ergebnis falsch oder aber falsch begründet.

Aus dem angefochtenen Urteil geht nicht hervor, in welchem Verfahrensstadium die strittige Ersteinvernahme von B. durchgeführt wurde. Aus den Akten ergibt sich jedoch, dass das Untersuchungsverfahren zu diesem Zeitpunkt noch nicht eröffnet war, wovon auch die Vorinstanz in ihrer Stellungnahme ausgeht. Das Verfahren befand sich damals noch im Stadium der (selbständigen) polizeilichen Ermittlungen; das Untersuchungsverfahren wurde, wie die Beschwerdeführerin zu Recht vorbringt, erst mit Verfügung vom 2. Dezember 2020 (Akten der Staatsanwaltschaft, act. 168) eröffnet. Folglich hatte der Beschwerdegegner, wie von der Beschwerdeführerin richtig erkannt, kein Recht, an der Einvernahme vom 20. August 2020 teilzunehmen (vgl. dazu E. 1.3.2). Eine Verletzung von Art. 147 Abs. 1 StPO liegt mangels Anwendbarkeit dieser Bestimmung im polizeilichen Ermittlungsverfahren nicht vor (E. 1.4.1, Hervorhebungen durch mich).

Die Erwägung lässt darauf schliessen, dass das Bundesgericht auf den formellen Eröffnungsbegriff (Erlass der Eröffnungsverfügung) abstellt. Die Lehre ist sich hingegen einig, dass es auf die Eröffnungsverfügung nicht ankommen kann, was sich zumindest indirekt auch aus dem Gesetz ergibt. Weil die Frage in den Erwägungen gar nicht diskutiert wird, könnte man meinen, die entscheidende Frage sei gar nicht erkannt worden.

Wenn das aber wirklich die Meinung des Bundesgerichts ist, dann wirft uns dieser Entscheid auf die Zeit vor der StPO zurück. In der kantonalen Praxis wurde nämlich laufend kritisiert, dass die polizeilichen Verfahren immer weiter ausgedehnt wurden, um die Parteirechte und das Recht auf formelle Verteidigung hinausschieben bzw. umgehen zu können. Dort wären wir dann wieder angekommen.

Manchmal muss man sich fragen, ob wenigstens diejenigen, die solche Entscheide unterzeichnen, auch lesen, was sie unterzeichnen.