Höchstrichterlicher Leerlauf?
Das Bundesgericht heisst eine Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Verzicht auf eine Landesverweisung gut, scheint selbst aber den kassierten Entscheid in seiner Begründung eher zu bestätigen (BGer 6B_834/2024 vom 10.06.2025, a.o. Fünferbesetzung). Kassiert hat es ihn, weil die Vorinstanz zu wenig gut abgeklärt hat, wie gross die Gefahr einer Abschiebung nach Nigeria für den homo- und bisexuellen Beschwerdeführer ist:
Dieser Verpflichtung ist die Vorinstanz nicht hinreichend nachgekommen. Zwar macht die Beschwerdeführerin geltend, auch das SEM gehe von keiner systematischen Verfolgung von Homo- und Bisexuellen in Nigeria aus und erachte eine Rückweisung als möglich und zumutbar. Darauf hat die Vorinstanz jedoch nicht abgestellt. Gestützt auf die vorliegenden Akten kann nicht abschliessend beurteilt werden, ob der Beschwerdegegner aufgrund seiner Homo- oder Bisexualität in seiner Heimat durch Repräsentanten des Staates oder durch Dritte – etwa infolge systematischer Diskriminierung und Homophobie – in einer Weise an Leib und Leben bedroht wäre, dass sich daraus ein Härtefall oder ein überwiegendes privates Interesse an einem Verbleib in der Schweiz ergibt. Namentlich genügt für die Annahme des Gegenteils nicht, dass der Beschwerdegegner offenbar wiederholt für mehrere Wochen in seine Heimat gereist ist. Im Rahmen eines blossen Ferienaufenthalts dürfte es vergleichsweise leicht möglich sein, die sexuelle Orientierung zu verbergen. Dies ist dem Beschwerdegegner indes, wie dargestellt, nicht zuzumuten. Die Vorinstanz hat den Sachverhalt mit Bezug auf die Lebensumstände für homo- oder bisexuelle Personen in Nigeria bzw. deren Diskriminierungs- und Gefährdungslage weiter abzuklären (E. 2.3.2).
Kann ein Gericht, das in Fünferbesetzung solche Entscheide fällt, wirklich überlastet sein? Glaubt ernsthaft jemand, dass das Kantonsgericht sein Urteil nach der zitierten Erwägung ändern wird?
Mit der Frage „Höchstrichterlicher Leerlauf?“ wird der Finger auf einen auf den ersten Blick tatsächlich seltsam anmutenden Punkt gelegt. Mit Bezug auf E. 2.3.2 erscheint es, das BGer zwinge die Vorinstanz nur dazu, eine bereits gefasste Meinung besser zu begründen.
Nicht zu unterschätzen ist jedoch die unmittelbar vorangehende E. 2.3.1, welche ins Gewicht fallen könnte, sodass der BGE keineswegs als Leerlauf zu werten ist, sondern vielmehr eine erhebliche materielle Korrektur seitens des BGer darstellt.
Das BGer hält dort implizit fest, dass die Vorinstanz die Interessenabwägung offensichtlich falsch vorgenommen hat:
Das öffentliche Interesse ist nicht „gering“: Die Vorinstanz hatte das öffentliche Interesse an einer Landesverweisung als gering eingestuft (E. 2.2.2). Das BGer widerspricht dem und spricht von einem „namhaften öffentlichen Interesse“. Es handelt sich um eine Katalogtat, die grundsätzlich zur Landesverweisung führt.
Die Rückfallgefahr wird spürbar gewichtet: Das Gericht betont die „gewisse Unbelehrbarkeit“ des Beschwerdegegners, der sich „auch von Vorstrafen und einem laufenden Strafverfahren nicht von weiterer Delinquenz hat abhalten lassen“. Angesichts dieser negativen Legalprognose sei die Wiederholungsgefahr „nicht von der Hand zu weisen“, was das öffentliche Interesse an einer Wegweisung erheblich steigert.
Fehlende besondere Integration: Das BGer bestätigt zudem, dass keine „besonders intensive“ Integration vorliegt, die gegen eine Landesverweisung sprechen würde.
Was bedeutet das für den Fall?
Das BGer hat nicht nur formale Abklärungen zur Lage in Nigeria verlangt, sondern es hat die eine Seite der Waagschale – das öffentliche Interesse – rechtlich neu aber insb. viel schwerer gewichtet, wenn auch bereits die Vorinstanz die „gewisse Unbelehrbarkeit“ und die „negative Legalprognose“ erkannt hatte.
Der Auftrag an die Vorinstanz lautet also nicht: „Begründet euer altes Urteil besser.“ Er lautet: „Führt auch eine völlig neue Interessenabwägung durch, bei der ihr das von uns als hoch eingestufte öffentliche Interesse gegen das von euch noch besser zu klärende private Interesse abwägt.“ Der Ausgang ist dabei völlig offen.
@Rob: Danke auch dafür. Aber Sie wissen so gut wie ich, wie das neue Urteil lauten wird, nicht?
@KJ: Besten Dank für Ihre geschätzte Antwort, auch zum Beitrag „Eröffnungsbegriff“.
Ihre Skepsis ist durchaus berechtigt, da die richterliche Praxis nicht immer deckungsgleich mit der abstrakten Rechtstheorie ist. Insofern halte auch ich es für denkbar, dass die Vorinstanz letztlich zum selben Ergebnis kommt und erneut auf die Landesverweisung verzichtet. Eine nur noch knappe Interessenabwägung zugunsten des Beschuldigten kann aber eine Leitwirkung für künftige Fallkonstellationen entfalten.
Meines Erachtens wollte das BGer – in seiner inhärenten Rolle als Träger der Rechtsfortbildung – mit dem bemerkenswerten Urteil in der Fünferbesetzung gezielt ein Signal setzen, Leitplanken abstecken und damit zwei Punkte abermals nachdrücklich verankern:
Erstens, dass Drogendelikte (insb. wenn wiederholt begangen) – auch gemäss ständiger Praxis des EGMR – als besonders schwerwiegend zu werten sind und das öffentliche Interesse an einer Wegweisung erheblich ist.
Zweitens, dass die Abwägung nicht bei einer abstrakten Gefahrenanalyse stehen bleiben darf. Vielmehr ist eine tiefgehende, auf die konkrete Person bezogene Prüfung unter Einhaltung von Art. 8 EMRK unerlässlich.
Gerade die Wichtigkeit einer umfassenden Abklärung der individuell-persönlichen Gefährdung im Heimatland – die sowohl insb. durch die Behörden (als Träger der Beweisführungslast) wie auch unter Mitwirkung des Beschuldigten zu erfolgen hat – wird im vorliegenden Urteil (E. 2.3.2) auch mit Verweis auf den EGMR erneut herausgestrichen.
Insb. bei höchstrichterlichen Fällen geht es bekanntlich nicht selten um mehr als „nur“ um Schuld- oder Freispruch im Einzelfall sondern u.a. um die Festigung und Präzisierung von Rechtsgrundsätzen.
In diesem Sinne lässt sich dem Urteil auch ein klarer Nutzen für die Verteidigungsrechte abgewinnen: Das BGer zementiert erneut den Grundsatz, dass die Untersuchungspflicht der Behörden bei der Abklärung der privaten Interessen – hier vorliegend der Gefährdung im Heimatland – nicht auf die leichte Schulter genommen werden darf. Sollte eine Behörde diese Gefahr künftig nur pauschal oder oberflächlich als gering abkanzeln, gibt dieser BGE Verteidigern ein noch schärferes Instrument an die Hand, um eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes zu rügen.
Könnte ich eigentlich auch ein Asylgesuch in Kanada stellen weil mich die Schweiz verfolgt und diskriminiert weil ich mich nicht mit dem staatlich legitimierten Rauschmittel Alkohol berauschen möchte?
Nein.
Warum nicht? Die staatliche Verfolgung eines schwulen stellt auch eine diskriminierung dar. Die Schweiz ist bekannt dafür in Ihren Gefägnissen die Menschenrechte zu missachten, insofern droht mir qualifizierte Wiederrechtlickeit und im Gefägnis Folter
Wieso nicht? Die Schweiz ist bekannt dafür in der Uhaft zu Foltern, als Beugehaft zu missbrauchen und elementare Menschenrechte zu missachten. Ich bin also an leib und leben bedroht auch in meiner psychischen Integrität
Bitte, was muss abgeklärt werden? Augenschein in Nigeria, oder was? 😀