Nachfrist nach unzureichender Berufungserklärung
Das Bundesgericht wirft dem Obergericht SH vor, aus überspitztem Formalismus nicht auf eine Berufung eingetreten zu sein (BGer 6B_357/2025 vom 09.07.2025). Die Berufungserklärung genügte zwar den gesetzlichen Anforderungen auch nach Auffassung des Bundesgerichts nicht. Das war aber kein Grund, ohne Nachfristansetzung einfach nicht einzutreten:
Es ist daher nicht zu beanstanden, wenn das Obergericht von einer „nicht hinreichenden“ Berufungserklärung spricht. Nicht beigepflichtet kann ihm allerdings, wenn es in der Folge ohne vorgängige Nachfristansetzung ein Nichteintreten verfügt. Bei der Person des Beschwerdeführers handelt es sich – was das Obergericht nicht zu berücksichtigen scheint – um einen Laien, der jeweils innert Frist sowohl vor der ersten Instanz als auch vor der Vorinstanz schriftlich seinen Willen kundgetan hat, mit dem Urteil nicht einverstanden zu sein bzw. dieses anzufechten. Dem Beschwerdeführer unter diesen Umständen keine Nachfrist zur Verbesserung der Berufungserklärung, namentlich zur Antragstellung in der Sache, zu gewähren, ist überspitzt formalistisch (E. 3).
Wäre der Beschwerdeführer anwaltlich vertreten gewesen, hätte das Bundesgericht bestimmt anders entschieden. Wieso eigentlich?
„Wäre der Beschwerdeführer anwaltlich vertreten gewesen, hätte das Bundesgericht bestimmt anders entschieden. Wieso eigentlich?“
Falls dem so wäre, ist die Antwort relativ simpel: falls der Verteidiger dieselben „Fehler“ machen dürfte, wie ein ohne Verteidiger agierender Beschuldigter, wäre nicht ersichtlich, weshalb es überhaupt noch einen Verteidiger bräuchte…
@Anonym/@Rob/@Laie: Man könnte es doch auch so sehen: Wenn ich als Laie den Bock schiesse, dann muss ich das Nichteintreten akzeptieren. Wenn ich aber einen Anwalt mandatiere, der das alles viel besser verstehen sollte als ich, wieso soll ich dann die Folgen seines Fehlers tragen müssen? Der Anwalt ist ja nicht OR-Vertreter, sondern Beistand. Die Nachfrist müsste man also nur dem anwaltlich „vertretenen“ Berufungsführer geben, nicht aber dem, der sich den Anwalt spart.
@KJ
Der Anwalt ist der Mandant!
Das leitet sich aus dem Stellvertretungsrecht des OR ab, wird in allen Prozessordnungen (ZPO, StPO etc.) als gegeben vorausgesetzt und durch eine gefestigte Rechtsprechung Hunderte Male pro Jahr bestätigt (ständige Rechtssprechung).
Dass der Anwalt der Mandant ist, ist gegeben durch:
– Art. 40 BGG (Vertretung der Parteien): Das BGer kennt nur Vertretungen (oder?)
– Art. 127 StPO (Rechte und Pflichten der Verteidigung): Die Verteidigung nimmt die Interessen der beschuldigten Person wahr. Sie handelt nicht für sich selbst, sondern immer für den Mandanten.
– Art. 129 StPO (Bevollmächtigte Privatklägerschaft): Hhier wird „klar“ (i.V.m Art. 127 StPO), dass der bestellte Rechtsbeistand die Privatklägerschaft vertritt und in deren Namen handelt.
– Art. 68 ZPO (Prozessvertretung): Regelt, wer eine Partei vor Gericht vertreten darf (z.B. ein Anwalt)
– Art. 32 Abs. 1 OR (Wirkung der Vertretung“: Handelt ein Ermächtigter im Namen eines andern, so wird der Vertretene und nicht der Vertreter berechtigt und verpflichtet.
Ansonsten hätten wir die Probleme:
1. Rechtsmissbrauch: Das würde dem Anwalt ermöglichen solche Fehler absichtlich zu machen (z.B. Verzögerung).
2. Waffengleichheit: Reiche bzw. Anwaltlich-Vertretene hätten doppelte Absicherung. Einmal durch den Anwalt und wenn dieser „versagt“, dann würde das Gericht eine neue Chance geben. Während Nicht-Anwaltlich-Vertretene nur eine Chance hätten.
Anderseits gibt es noch die Anwaltshaftung, aber naja… das ist Tabuthema.
Theoretisch wird auch nicht der Anwalt entschädigt, sondern der Mandant. Der Grund wieso der Anwalt das Geld direkt erhält: Es ist ja im Interesse des Auftragsgebers, stand ja so in der Bevollmächtigung 😉
@KJ: Ihr Einwand ist auf den ersten Blick nachvollziehbar: Warum soll jemand, der für einen Anwalt bezahlt, für dessen Fehler bestraft und schlechter gestellt werden als ein Laie?
Allerdings verkennt diese Sichtweise, wie Sie bestens wissen, die besondere Stellung des Anwalts und die Logik des Prozessrechts:
Prinzip der Zurechnung: Ein Anwalt unterliegt als unabhängiges Organ der Rechtspflege unter anderem dem Anwaltsgesetz sowie den Standesregeln, geniesst aber auch im System Privilegien (z. Bsp. Anwaltsmonopol). Wer einen Anwalt mandatiert, profitiert von seiner Expertise, muss sich aber im Gegenzug dessen Handeln und Unterlassen im Prozess zurechnen lassen. Der Anwalt ist gemäss Art. 127 StPO nicht nur „einfacher Auftragnehmer“ im Sinne von Art. 394 ff OR, sondern prozessualer Vertreter des Mandanten. Dies ergibt sich schon nur aus der Vollmacht zwischen dem Mandanten und dem Anwalt. Die Fehler des Anwalts sind aus Sicht des Gerichts (fast immer auch) die Fehler der Partei. Eben die Partei die der Anwalt im Strafprozess mit teils selbständigen prozesstaktischen Handlungen vertritt. Z. Bsp. seine Beweisanträge, Teilnahme an Einvernahmen > Ergänzungsfragen etc. entfalten unmittelbare Wirkung für und gegen seinen Mandanten.
Der korrekte Lösungsweg: Die Frage „Wieso soll ich als Mandant die Folgen der Fehler des Anwalts tragen?“ ist berechtigt, zielt aber auf den falschen Adressaten. Die Lösung liegt nicht (in casu) in einer Nachfrist vom Gericht, sondern in der Anwaltshaftung. Das pflichtwidrige Verhalten des Anwalts ist primär eine Schlechterfüllung im Auftragsverhältnis (OR), das ihn schadenersatzpflichtig machen könnte. Ein Zivilurteil (z. Bsp. Schadenersatz) ändert natürlich nichts am Strafurteil (z. Bsp. Gefängnis) – auch nicht ein Disziplinarverfahren gegen den fehlbaren Anwalt. Allerdings wäre eine Kompensation des Auftragsrecht (Vertragsverletzung) durch das Prozessrecht („übermässige“ Kulanz durch das Gericht) systemfremd.
Schutz des Laien ist keine Belohnung: Ihr Argument, der Laie „spare sich den Anwalt“, greift zu kurz. Manchmal hat er keine Wahl. Es gibt z. Bsp. bekanntlich Hürden für eine amtliche Verteidigung (Art. 132 Abs. 3 StPO). Für mittellose Geschädigte führt zudem nicht selten kein Weg daran vorbei, sich selbst zu vertreten – die Hürden für unentgeltliche Rechtspflege sind noch deutlich höher als bei Beschuldigten. Die Nachfrist für Laien ist also kein Bonus, sondern eine notwendige Konsequenz der Rechtsweggarantie zum Schutz des prozessual Schwächeren, der das System nicht derart gut kennen kann.
@Rob: Herzlichen Dank für den gehaltvollen Beitrag. Aber in einem Punkt liegen Sie falsch: im Strafverfahren sind Anwälte immer nur Beistände, nie Vertreter. Und von der Haftpflicht hat der Betroffene wenig, wenn er bspw. eine Freiheitsstrafe antreten muss, weil sein Anwalt eine Frist verpasst hat. Aus diesem Grund gibt übrigens auch das Bundesgericht zumindest bei notwendiger Verteidigung eine Nachfrist, wenn der notwendige Verteidiger die gesetzliche Frist verpasst hat.
Der Vollständigkeit halber für Nerds hier ein interessanter BGE 6B_588/2025 (Urteil vom 7. Juli 2025) zu verpassten Fristen (durch den Rechtsbeistand verschuldet) und der Ausnahme der notwendigen Verteidigung. Dieser besagt im Wesentlichen (Auszug E. 4 und E. 5):
Die Wiederherstellung einer vor BGer versäumten Frist ist praktisch ausgeschlossen, wenn das Versäumnis auf einen Fehler des Anwalts zurückgeht. Gemäss ständiger Praxis wird das Verschulden des Rechtsvertreters dem Mandanten vollumfänglich zugerechnet. Es gilt ein äusserst strenger Massstab, der klare Schuldlosigkeit verlangt.
Die im kantonalen Strafverfahren geltende Ausnahme, wonach Fehler eines notwendigen Verteidigers dem Beschuldigten nicht angelastet werden, ist auf das Verfahren vor BGer jedoch nicht anwendbar, da das BGG dieses Institut nicht kennt. im Verfahren vor BGer entscheidet der Beschuldigte (vorbehältlich Art. 41 BGG, der eine andere Fallkonstellation betrifft) selbst, ob er sich durch einen Anwalt vertreten lassen will.
„Weshalb hätte das Bundesgericht anders entschieden, wenn der Beschwerdeführer anwaltlich vertreten gewesen wäre?“
Die naheliegende Antwort, die Sie selbst bereits erahnen, ist, dass von einem Rechtsanwalt erwartet werden kann, den Unterschied zwischen der Berufungsanmeldung (10 Tage) und der (nach Zustellung des schriftlich begründeten erstinstanzlichen Urteils erforderlichen) schriftlichen Berufungserklärung (20 Tage) zu kennen und korrekt zu beachten. Ein Rechtsanwalt ist aufgrund seiner Ausbildung und Berufserfahrung mit den entsprechenden prozessualen Anforderungen vertraut, sodass ihm ein solches Versehen nicht oder nur höchst selten unterlaufen dürfte.
Umgekehrt kann man sich auch fragen, warum ein Rechtsvertreter (natürlich zu Recht) im Obsiegensfall eine Parteientschädigung zugesprochen erhält, während einem nicht anwaltlich vertretenen Laien in der Regel keine Entschädigung zusteht (vgl. E. 4).
„während einem nicht anwaltlich vertretenen Laien in der Regel keine Entschädigung zusteht“
Der EGMR gewährte (zumindest früher) grosszügiger eine Parteientschädigung als das Bundesgericht: Ersatz der Kosten des Verfahrens vor den innerstaatlichen Behörden,
sofern sie
1) tatsächlich entstanden sind;
2) notwendigerweise entstanden, d.h. kausal wegen der Anfechtung der betreffenden EMRK-Verletzung erwachsen sind;
3) insgesamt angemessen (reasonable) erscheinen (Villiger, Handbuch der EMRK, Zürich 1999, N 242 mit Hinweisen auf Szücs c. Österreich vom 24. November 1997, Ziffer 55; Wiesinger c.
Österreich vom 30. Oktober 1991, Ziffer 88; heutige Praxis bei Bedarf bitte recherchieren).
Mit anderen Worten: das Bundesgericht missachtete schon damals die verbindliche EGMR-Praxis in dieser Frage.
Indem es beschwerdeführenden Laien bei Obsiegen die Parteientschädigung verweigert, verletzt das Bundesgericht:
– den Anspruch auf faires Verfahren (Art. 6 EMRK);
– auf wirksame Beschwerde (Art. 13 EMRK):
– diskriminiert Beschwerdeführer aufgrund ihres Status‘ als juristische Laien und ihrer Mittellosigkeit (Art. 14 EMRK);
– und behindert die wirksame Ausübung des Individualbeschwerderechts (Art.34 EMRK).
Von einem Anwalt wird erwartet, dass er die prozessualen Vorschriften kennt.
– Art. 399 Abs. 3 StPO: „Berufungsanmeldung“ statt der gesetzlich vorgeschriebenen „Berufungserklärung“ = Anwalt sollte die Begriffe verstehen.
– Kein Anspruch auf Nachfrist: Das Gericht wird nicht müde zu betonen „regelmässig nur bei Versehen oder unverschuldetem Hindernis in Frage“. Das Gericht hätte argumentiert, dass der Anwalt die Pflicht hatte, die formellen Anforderungen zu kennen und zu erfüllen.
Bei Laien hingegen:
– Art. 385 Abs. 2 StPO (Allgemein): Bei Mängeln KANN eine (kurze) Frist zur Korrektur gegeben werden.
– Art. 400 Abs. 1 StPO (Speziell für die Berufung): Verfahrensleitung MUSS „Verdeutlichung auffordern“, wenn aus Berufungserklärung nicht klar hervorgeht, was angefochten wird.
Speziell dieses Verfahren:
– Faires Verfahren != Überspitzter Formalismus: Das Bundesgericht schützt mit dieser Praxis das Recht auf ein faires Verfahren (verankert in Art. 29 Abs. 1 der Bundesverfassung).
Bei Rechtsmissbrauch:
Kann das Gericht nachweisen, dass es kein Versehen war, ist game over.
Zusammenfassend
Hängt vom Richterlichem Ermessen ab aka. Willkür.
Also es ist Grundsätzlich so das Laieneingaben, auch vor BGE mit dem ansonsten strengen Rügeprinzip, grosszügiger behandelt werden, nichts desto trotz braucht ein Laie dann schon auch etwas Rechtskenntnisse um Richter zu überzeugen.
Es ist indes korrekt das der Profi bestraft wird und keine Nachfrist erhält während man mit dem Amateur grosszügiger ist, das spricht auch für einen Wirksamen Zugang zu den Gerichten, der ja sonst mit Kosten schon genügend erschwert ist. Seien wir doch mal Ehrlich wer mit Anwalt durch die Instanzen für sein Recht kämpfen will, und dies Extensiv machen will, der muss zu den oberen 10% gehören. Das heisst die grosse Mehrheit hat gar keine andere Wahl….