Verfassungswidrige Durchsuchung einer Anwaltskanzlei

In seiner Februar-Ausgabe 2008 berichtet die Online-Zeitschrift HRRS über ein Urteil des EGMR zur Beschlagnahme von elektronischen gespeicherten Daten in einer Anwaltskanzlei (EGMR Nr. 74336/01, Wieser and BICOS Beteiligungen GmbH v. Austria, Urteil der 4. Kammer vom 16.10.2007).

Die Leitsätze des Bearbeiters Karsten Gaede lauten wie folgt:

  1. Die Durchsuchung einer Anwaltskanzlei zur Auffindung elektronisch gespeicherter Daten und deren Beschlagnahme greifen in das Recht auf Achtung der Korrespondenz gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK ein. Dabei ist keine Unterscheidung zwischen dem hiervon betroffenen Anwalt und einer juristischen Person zu treffen, die von den gespeicherten Daten betroffen ist.
  2. Das nationale Recht muss in diesen Fällen adäquate und effektive Schutzinstrumente gegen jede Form von Willkür und Missbrauch vorsehen. Einzubeziehende Kriterien sind besonders, ob die Durchsuchung auf einem richterlichen Durchsuchungsbefehl und auf einem nachvollziehbaren Tatverdacht beruht, ob der Durchsuchungsumfang diesbezüglich angemessen limitiert ist und – wenn eine Anwaltskanzlei betroffen ist – ob die Durchsuchung in Anwesenheit eines unabhängigen Beobachters durchgeführt wird, um zu sichern, dass Material, welches der anwaltlichen Schweigepflicht unterliegt, nicht entfernt (beschlagnahmt) wird.
  3. Nach nationalem Recht bestehende prozedurale Schutzinstrumente gegen Missbrauch und Willkür und zum Schutz der anwaltlichen Verschwiegenheit müssen auch bei der Suche nach elektronisch gespeicherten Daten tatsächlich eingehalten werden, damit eine Durchsuchung und Beschlagnahme im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK rechtmäßig ist (hier: inhaltliche Einsichtnahme aufgefundener Daten nur durch den Richter; Kontrolle der Durchsuchung über Zeugen/einen Vertreter der Anwaltskammer; Widerspruchsrechte; zeitnahe Dokumentation durch einen Bericht).
  4. Schutzrechte gegen unverhältnismäßige und willkürliche Durchsuchungen müssen insbesondere im Fall der Durchsuchung einer Anwaltskanzlei tatsächlich wirksam sein.
  5. Der besondere Schutz einer Anwaltskanzlei ist nicht nur dann erforderlich, wenn der von einer Durchsuchung betroffene Anwalt unmittelbar als Anwalt desjenigen Unternehmens auftritt, wegen dessen Verbindungen zu einem laufenden Strafverfahren die Durchsuchung durchgeführt werden soll. Es genügen auch anzunehmende anwaltliche Tätigkeiten für Tochterunternehmen des besagten Unternehmens.
  6. Der Schutz der anwaltlichen Verschwiegenheit dient auch dem Mandanten des Anwalts, so dass eine gegenüber dem Anwalt rechtswidrige Durchsuchung und Beschlagnahme auch das Recht des Mandanten verletzt.
  7. Fehlen in den nationalen Beschlagnahme- und Durchsuchungsvorschriften spezielle Regelungen zum Zugriff auf elektronische Daten, dürfen diese Vorschriften durch die nationale Rechtsprechung auch gemäß Art. 8 EMRK erweiternd ausgelegt werden um auch elektronische Daten erfassen zu können, soweit eine solche erweiternde Auslegung nach nationalem Recht möglich ist.

Die Februar-Ausgabe befasst sich hier auch mit dem neulich ergangenen Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Online-Durchsuchungen (vgl. meine früheren Beiträge hier und hier).