Entsiegelung: Fehlentscheid des Jahres?

Es kommt praktisch nie vor, dass ein ZMG einen Entsiegelungsantrag der Staatsanwaltschaft abweist. In einem aktuellen Strafverfahren gegen einen Lehrer im Kanton AG (sexuelle Handlungen mit einem Kind nach einer Schulstunde) ist ein solcher Fall eingetreten.

Das Bundesgericht lässt das nun aber nicht zu und übersteuert das ZMG (BGer 7B_741/2024 vom 22.08.2025). Die Vorinstanz hatte die Abweisung des Gesuchs wie folgt begründet:

Die Vorinstanz erwägt im angefochtenen Entscheid, es bestünden keine Hinweise dafür, dass sich auf den gesiegelten Geräten Beweise für die dem Beschwerdegegner vorgeworfene Straftat befinden könnten. So werde weder geltend gemacht, dass vom fraglichen Vorfall Videos oder Fotos aufgenommen worden seien, noch, dass in diesem Zusammenhang Nachrichten ausgetauscht worden seien. Es seien auch keine konkreten Anhaltspunkte ersichtlich, wonach sich der Beschwerdegegner weiterer Delikte, insbesondere der Pornografie nach Art. 197 StGB, schuldig gemacht haben könnte. Alleine der Umstand, dass er sich einer sexuellen Handlung mit einem Kind schuldig gemacht haben könnte, lasse ohne zusätzliche Anhaltspunkte nicht darauf schliessen, dass er auch weitere Delikte ähnlicher Art (etwa Besitz von Kinderpornografie) verübt habe. Es bestehe somit kein hinreichender Deliktskonnex zu den gesiegelten Geräten (E. 3.1).  

Das Bundesgericht lässt dies nicht gelten und konstruiert den Deliktskonnex über die Notwendigkeit einer psychiatrischen Begutachtung, die im Falle einer Verurteilung des Lehrers notwendig würde. Das halte ich für rechtswidrig, weil Zwangsmassnahmen auf Vorrat (im Falle der Verurteilung) nie zulässig sein können. Die Durchsuchung der Geräte dient im vorliegenden Fall nicht der Erhärtung des Anfangsverdachts, sondern der Sanktionierung im Falle einer Verurteilung. Dass der Entscheid falsch sein muss, erkennt man auch daran, dass man mit dieser Begründung jede Durchsuchung rechtfertigen könnte. Die begrenzende Wirkung des Gesetzes wird damit aufgehoben:

[Der Oberstaatsanwaltschaft] ist dagegen zuzustimmen, dass die gesiegelten Daten Aufschluss darüber geben könnten, ob der Beschwerdegegner an einer pädophilen Störung leidet, und dass diese Frage im hier zu beurteilenden Fall „deliktsrelevant“ ist, beziehungsweise einen hinreichenden Konnex zur untersuchten Straftat aufweist: Dem Beschwerdegegner wird eine sexuelle Handlung mit einem Kind (Art. 187 StGB) vorgeworfen, die er als Klassenlehrer nach einer Schulstunde begangen haben soll. Im Falle einer Verurteilung steht bei dieser Sachlage nebst der Anordnung einer therapeutischen Massnahme im Sinne von Art. 56 ff. StGB auch die Anordnung eines Tätigkeitsverbots in Frage. Wird der Beschwerdegegner verurteilt (oder wird eine Massnahme gegen ihn angeordnet), so verbietet ihm das Gericht lebenslänglich jede berufliche und jede organisierte ausserberufliche Tätigkeit, die einen regelmässigen Kontakt zu Minderjährigen umfasst (vgl. Art. 67 Abs. 3 lit. b StGB). Das Gericht kann zwar unter gewissen Voraussetzungen ausnahmsweise von der Anordnung eines Tätigkeitsverbots absehen; nicht aber, wenn der Täter – also der Beschwerdegegner, falls er verurteilt wird – gemäss den international anerkannten Klassifikationskriterien pädophil ist (vgl. Abs. 4bis lit. b).  

Das Sachgericht wird demnach im Falle einer Verurteilung des Beschwerdegegners abklären müssen, ob dieser pädophil und/oder massnahmebedürftig ist. Dabei wird es sich zwar in erster Linie auf eine sachverständige Begutachtung stützen, die eine zwingende Entscheidgrundlage für das Sachgericht bildet (vgl. BGE 144 IV 176 E. 4.2.1; Urteil 6B_1143/2021 vom 11. März 2022 E. 3.2.5; je mit Hinweis); die sachverständige Person benötigt jedoch ihrerseits für die Erstellung des Gutachtens gewisse Akten und Informationen, die sie – mit Ausnahme fachspezifischer Erhebungen – nicht selbst erheben oder beiziehen darf (vgl. BGE 144 IV 302 E. 3.3.3 und 3.4.2; Urteil 6B_257/2020 vom 24. Juni 2021 E. 4.8.2; je mit Hinweisen). Vielmehr obliegt es der Verfahrensleitung, die notwendigen Unterlagen und Informationen zu beschaffen, zu triagieren und an die sachverständige Person zu übermitteln (vgl. Urteile 7B_734/2024 vom 5. März 2025 E. 2.2.2; 1B_203/2023 vom 8. Juni 2023 E. 3.3 mit Hinweisen). 

Die Staatsanwaltschaft und die Oberstaatsanwaltschaft gehen davon aus, in den Daten der gesiegelten Geräte könnten sich Hinweise dafür befinden, dass der Beschwerdegegner pädophil ist, wobei die Staatsanwaltschaft angibt, dabei könne es sich um „Videos, Fotos, etc.“ handeln, die eine entsprechende sexuelle Präferenz offenbaren könnten. Ihr ist zuzustimmen, dass die Existenz – oder die Abwesenheit – solcher Hinweise, bei denen es sich im Übrigen nicht zwingend um strafbare Kinderpornografie handeln muss, einer sachverständigen Person im Falle einer Verurteilung die für ihre psychiatrische Begutachtung nötigen Grundlagen liefern könnte und insbesondere Aufschluss darüber geben können, ob der Beschwerdegegner an einer pädophilen Störung leidet und therapeutisch zu behandeln ist. Der Deliktskonnex ist daher – entgegen der Vorinstanz – zu bejahen (E. 3.4.3).

Der Entscheid ist auch aus einem anderen Grund bemerkenswert. Das Bundesgericht verwirft nun die These, dass der Verdacht der sexuellen Handlung mit einem Kind auch einen Tatverdacht der Pornografie i.S.v. Art. 197 StGB begründe.

Des Weiteren nennt die Oberstaatsanwaltschaft keine wissenschaftlichen Belege für ihre Behauptung, dass wer sich einer sexuellen Handlung mit einem Kind schuldig macht, regelmässig auch dazu neigt, Kinderpornografie herzustellen, zu speichern oder auszutauschen. Solches kann nicht als notorisch bekannt gelten. Wie die Vorinstanz zutreffend festhält, bestehen keine konkreten Anhaltspunkte (und somit kein Tatverdacht) dafür, dass sich der Beschwerdegegner der Pornografie nach Art. 197 StGB schuldig gemacht haben könnte. Der Oberstaatsanwaltschaft kann insoweit nicht gefolgt werden (E. 3.4.2).

Das sah das Bundesgericht m.W. auch schon anders.