Fehlkonstruierte Strafprozessordnung

Ein neuer Entscheid des Bundessgerichts zeigt, wie konzeptionelle Mängel im Gesetz zu Rechtsprechung führen, die kaum nachvollziehbar ist.

In einem Strafverfahren hat ein Beschuldigter den Ausstand von Polizisten verlangt, die sowohl für die Staatsanwaltschaft als auch für das Gericht tätig wurden. Das Bundesgericht sieht darin unter Berufung auf die Konzeption des Verfahrens überhaupt kein Problem und schmettert die Beschwerde als offensichtlich unbegründet ab (BGer 1B_139/2018 vom 26.11.2018).

Zum Verständnis zuerst der Standpunkt des Beschuldigten: 

Der Beschwerdeführer begründet das Ausstandsgesuch gegen die Polizeibeamten B. und C. damit, diese hätten den Staatsanwalt, der das Verfahren nach dem vom Bundesgericht angeordneten Ausstand der früheren fallführenden Staatsanwälte (BGE 141 IV 178) übernommen habe, nach Anklageerhebung unterstützt. Gleichzeitig hätten sie für das Bezirksgericht Beweise erhoben. Damit hätten sie “zwei Herren” gedient und sich deshalb in einem Interessenkonflikt befunden. Als “Gehilfen” des Staatsanwalts hätten sie auf eine Verurteilung hinarbeiten müssen, als “Gehilfen” des Gerichts seien sie zur Objektivität verpflichtet gewesen. Unter den gegebenen Umständen bestehe die Gefahr, dass sie bei ihren Beweiserhebungen entlastende Gesichtspunkte unterdrückt hätten. Zumindest bestehe der Anschein der Befangenheit, was für den Ausstand genüge. 

Das Bundesgericht will das Problem nicht sehen und verstrickt sich in Widersprüche:

Nach Erhebung der Anklage wird die Staatsanwaltschaft zur Partei (Art. 104 Abs. 1 lit. c StPO). In diesem Verfahrensstadium ist die Staatsanwaltschaft nicht mehr zur Unparteilichkeit verpflichtet und hat sie grundsätzlich die Anklage zu vertreten (Art. 16 Abs. 2 StPO; BGE 141 IV 178 E. 3.2.2 S. 180) [E. 4.3].

Ein paar Zeilen weiter unten sagt das Bundesgericht Im Ergebnis das Gegenteil:


Auch als Prozesspartei bleibt die Staatsanwaltschaft der Objektivität verpflichtet (E. 4.3).

Um diese beiden Zitate nicht aus dem Zusammenhang zu reissen, hier noch die ganze Erwägung:

Nach Erhebung der Anklage wird die Staatsanwaltschaft zur Partei (Art. 104 Abs. 1 lit. c StPO). In diesem Verfahrensstadium ist die Staatsanwaltschaft nicht mehr zur Unparteilichkeit verpflichtet und hat sie grundsätzlich die Anklage zu vertreten (Art. 16 Abs. 2 StPO; BGE 141 IV 178 E. 3.2.2 S. 180). Gleichwohl kann die Staatsanwaltschaft auch nach Erhebung der Anklage mit Beweiserhebungen beauftragt werden. Ist die Erhebung eines Beweises in der Hauptverhandlung voraussichtlich nicht möglich, so kann gemäss Art. 322 Abs. 3 StPO die Verfahrensleitung eine vorgängige Beweiserhebung durchführen und damit in dringenden Fällen die Staatsanwaltschaft betrauen. Ebenso kann nach Art. 339 Abs. 5 StPO das Gericht bei der Behandlung von Vor- oder Zwischenfragen die Hauptverhandlung jederzeit vertagen, um die Akten oder die Beweise zu ergänzen oder durch die Staatsanwaltschaft ergänzen zu lassen. Das Gesetz geht somit davon aus, dass der Staatsanwalt bei derartigen Beweiserhebungen nach Anklageerhebung nicht befangen ist. Andernfalls würde es dessen Zuständigkeit und die Pflicht des Gerichts zur Berücksichtigung auch der insoweit erhobenen Beweise (Art. 350 Abs. 2 StPO) nicht vorsehen. Die Wertung des Gesetzes ist für das Bundesgericht verbindlich (Art. 190 BV) und im Übrigen nachvollziehbar. Auch als Prozesspartei bleibt die Staatsanwaltschaft der Objektivität verpflichtet. Sie darf somit keine Verurteilung um jeden Preis anstreben. Vielmehr hat sie für eine gerechte Anwendung des Strafgesetzes einzutreten. Auch als Partei darf die Staatsanwaltschaft daher nicht bewusst wesentliche Punkte weglassen oder wissentlich unwahre Tatsachen vorbringen (HENRIETTE KÜFFER, in; Schweizerische Strafprozessordnung, Basler Kommentar, 2. Aufl. 2014, N. 20 zu Art. 104 StPO; HAURI/VENETZ, ebenda, N. 26 zu Art. 339 StPO; ANDREAS J. KELLER, in: Donatsch und andere [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 2 und 10 zu Art. 16 StPO). Sie darf demnach bei Beweiserhebungen keine entlastenden Umstände unterdrücken. Dies widerspräche nicht nur Art. 6 Abs. 2 StPO, wonach die Strafbehörden die belastenden und entlastenden Umstände mit gleicher Sorgfalt untersuchen, sondern wäre gegebenenfalls auch strafbar. In Betracht kommt in Fällen wie hier insbesondere der Tatbestand der Freiheitsberaubung nach Art. 183 Ziff. 1 Abs. 1 StGB, begangen in mittelbarer Täterschaft (hierzu BGE 101 IV 306 E. 8b S. 310 mit Hinweisen). Das Gericht darf deshalb davon ausgehen, dass ihm die Staatsanwaltschaft bei den Beweiserhebungen nach Anklageerhebung auch die entlastenden Gesichtspunkte zur Kenntnis bringt. Kann demnach beim Staatsanwalt keine Befangenheit angenommen werden, muss das erst recht für den Polizeibeamten gelten, der nach Anklageerhebung im Auftrag des Gerichts (Art. 15 Abs. 3 StPO) Beweiserhebungen durchführt, auch wenn er gleichzeitig den Staatsanwalt bei der Vertretung der Anklage unterstützt. Denn die Anforderungen an die Unbefangenheit sind nach der dargelegten Rechtsprechung bei einem Polizeibeamten geringer als beim Staatsanwalt. 
Wenn die Vorinstanz den Ausstandsgrund nach Art. 56 lit f. StPO verneint hat, verletzt das deshalb kein Bundesrecht (E. 4.3).

Das Problem liegt hier aber wie eingangs angetönt darin, dass der Gesetzgeber den Mut nicht hatte, ein konsistentes, sich von der Inquisition lösendes Strafverfolgungsmodell zu entwickeln.