Fingierte Zustellfiktion

Heute hat das Bundesgericht einen weiteren Entscheid zur Zustellungsfiktion im Strafbefehlsverfahren publiziert (BGer 7B_277/2023 vom 19.09.2023). Dabei hat es seine langjährige Rechtsprechung zu den “Pflichten” bei Begründung eines Prozessrechtsverhältnisses bestätigt, wonach sich “die Parteien” nach Treu und Glauben zu verhalten und unter anderem dafür zu sorgen haben, dass ihnen behördliche Akten zugestellt werden können, welche das Verfahren betreffen.

Im vorliegenden Fall erwies sich die gesetzliche Zustellfiktion sozusagen als richterlich fingiert, denn die Betroffene hatte nur fiktive Kenntnis des Prozessrechtsverhältnisses:

Unbestritten ist, dass die Strafbefehle (deren zwei wegen Widerhandlung gegen das Übertretungsstrafgesetz des Kantons Basel-Stadt und einen wegen Ungehorsams des Schuldners im Betreibungs- und Konkursverfahren) der Beschwerdeführerin nicht zugestellt worden konnten und mit dem Vermerk “nicht abgeholt” an die Staatsanwaltschaft retourniert wurden. Unter den gegebenen Umständen kann der Beschwerdeführerin jedoch nicht zum Vorwurf gemacht werden, sie hätte mit der Zustellung dieser Strafbefehle rechnen müssen: Aus dem vorinstanzlichen Entscheid ergibt sich jedenfalls nicht, auf welche “aktenkundigen Zustellungen” sich eine Zustellfiktion im Sinne von Art. 85 Abs. 4 lit. a StPO stützen sollte. Den kantonalen Akten liegen zwar (teils eingeschriebene) an die Beschwerdeführerin adressierte Schreiben des Veterinäramts bzw. des Betreibungsamts des Kantons Basel-Stadt aus dem dem jeweiligen Strafbefehl vorangegangenen Verwaltungs- bzw. Betreibungsverfahren bei. Daraus geht hervor, dass der Beschwerdeführerin – nach mehrfacher Aufforderung zur Bezahlung der Hundesteuern bzw. Folgeleistung der Pfändungsankündigung – schliesslich mitgeteilt werden sollte, dass sie bei der Staatsanwaltschaft verzeigt worden sei bzw. verzeigt werde. Wie die Beschwerdeführerin indes zu Recht geltend macht, liegen keine Belege vor, welche den Nachweis dafür erbringen würden, dass diese Schreiben ihr effektiv zugestellt werden konnten. Auch sonst ist nicht ersichtlich, inwiefern die Beschwerdeführerin im Zeitpunkt der versuchten Zustellung der Strafbefehle hätte wissen sollen und müssen, dass die Staatsanwaltschaft jeweils einen Strafbefehl gegen sie erlassen könnte. Daran ändert nichts, dass die – offenbar unter somatischen und psychischen Beschwerden leidende – Beschwerdeführerin rund acht Monate vor dem ersten Strafbefehl in einem KESB-Verfahren habe verlauten lassen, dass sie grundsätzlich keine Post aufmache. Damit sind die fraglichen Strafbefehle in den Verfahren VT.2020.3694, VT.2020.19680 sowie VT.2021.2301 der Beschwerdeführerin nicht rechtswirksam zugestellt worden. Die Strafbefehle sind durch die zuständige Behörde neu auszufertigen und der Beschwerdeführerin formgültig zu eröffnen.