Formungültige Strafbefehle: update
Nach BGE 148 IV 445 (vgl. dazu meinen damaligen Beitrag) haben einige Staatsanwaltschaften versucht, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, indem sie die Aktenkopien der Strafbefehle einfach nachträglich unterschrieben haben (mir sind Fälle bekannt, in denen die Unterschriften rückdatiert wurden). Manche Gerichte – nicht alle – haben das ohne Weiteres gelten lassen. Mit dem gestern publizierten Entscheid des Bundesgerichts müssen sie jetzt aber über die Bücher (BGer 6B_9/2024 vom 30.04.2025, Fünferbesetzung) und sich – so mühsam es sein mag – einfach an das Gesetz halten (Art. 353 Abs. 1 lit. k StPO):
Die handschriftliche Unterzeichnung des Strafbefehls soll kenntlich machen, wer dessen Aussteller ist und damit einhergehend über Schuld und Strafe entschieden hat (vgl. vorne E. 1.3.3). Zwar ist – wie bereits in BGE 148 IV 445 festgehalten – nicht auszuschliessen, dass eine Unterschrift im Einzelfall nachgeholt werden kann, insbesondere dann, wenn von einem Versehen ausgegangen wird. Im vorliegend zu beurteilenden Fall beruht die mangelhafte Unterschrift jedoch nicht auf einem Versehen, sondern auf derselben kantonalen Praxis wie jener, die dem BGE 148 IV 445 zugrunde lag. Unter diesen Voraussetzungen kann die nachträgliche Unterschrift den Formmangel nicht heilen. Bei diesem Ergebnis erübrigt es sich, auf die weitere Kritik des Beschwerdeführers an der rechtlichen Würdigung des Sachverhalts einzugehen (E. 1.4.2, Hervorhebungen durch mich).
@KJ: Wenn Ihnen nachträglich unterschriebene Aktenkopien von Strafbefehlen (auf dem Original fehlte also die Unterschrift) und rückdatierte Unterschriften bekannt sind, frage ich mich:
Gelten die Urkundendelikte für Amtspersonen nicht mehr (analog zur kaufmännischen Buchführung, vgl. z.B. https://bger.li/129-IV-130)?
@Ketzerin: Den Gerichten ist sowas egal. Den Klienten je nach Urteil auch.
… und den Staatsanwaltschaften demnach auch. Also eine faktische Zweiklassenjustiz, die verfassungswidrig ist. Aber eine Menge Heuchler, die trotzdem bei allen Gelegenheiten von Rechtsstaatlichkeit faseln.
@Ketzerin: Das Strafbefehlsverfahren ist gewollt verfassungswidrig. Aber praktisch.
Das Urteil zeigt, dass es, sogar im Strafbefehlsverfahren, durchaus noch berechtigt ist „vom Rechtstaat“ – in seiner sehr formalisierten Form – zu sprechen.
Der Strafbefehl wurde ja an Datum X ausgestellt, weswegen eine Rückdatierung der Unterschrift auf Datum X (effektives Ausstellungsdatum) nicht vergleichbar ist mit einem Erstellen und Rückdatieren von Kaufverträgen und Buchhaltungen, welche zu diesem Zeitpunkt effektiv so nicht bestanden hatten.
Die Rückdatierung (und m.E. auch die nachträgliche Unterzeichnung der Strafbefehle) sind natürlich offensichtlich falsch. Trotzdem sollten sich gewisse Blogger*innen hier auch wieder darin üben, eine etwas objektivere Brille anzuziehen bei der Bewertung von solchen Sachverhalten, welche offensichtlich nicht gleich sind. Ansonsten verliert man als Konsument des Blogs leider auch etwas den Respekt vor den (teilweise berechtigten) Kommentaren in anderer Angelegenheit. Gerne viel der berechtigten Kritik, aber keine Kritik um des Kritik willens.
@Lurker: Der Strafbefehl hat zum Zeitpunkt seiner Ausstellung auch „so nicht bestanden“. Gerade im Umgang mit eigenen Urkunden sind die Behörden erstaunlich grosszügig.
Es ist trotzdem etwas sehr anderes, als ein Kaufgeschäft 1 Jahr in die Vergangenheit zu platzieren und so zu unterschreiben (wie im zum Vergleich aufgeführten BGer). Oder?
@Lurker: Klar ist es nicht dasselbe. Es kann aber beides strafbar sein. Muss nicht, aber kann.