Freie Fahrt für die Polizei

Eigentlich war bisher immer ziemlich klar, dass die Verkehrsregeln unter Vorbehalt von Art. 100 Ziff. 4 SVG auch für die Polizei gelten. Seit einem zur Publikation vorgesehenen Entscheid des Bundesgerichts vom 04. November 2015 ist das nicht mehr so (BGE 6B_1025/2015 vom 04.11.2015).

Das Bundesgericht lässt es zu, dass die Polizei im Rahmen ihrer gesetzlichen Pflichten (i.c. Verfolgung eines Verkehrssünders zwecks Identifikation des Lenkers) Verkehrsregeln verletzen darf, die gegenüber privaten Verkehrsteilnehmern als schwere Verkehrsregelverletzung geahndet werden. Handelt es sich dabei um eine nicht dringliche Dienstfahrt, muss weder Blaulicht noch Wechselklanghorn eingeschaltet werden (Art. 100 Ziff. 4 SVG gilt nur für dringliche Dienstfahrten). Selbst das so gefährliche Rechtsüberholen ohne die genannten Warnsignale ist für das Bundesgericht unproblematisch, zumal es ja nur eine abstrakte Gefährdung darstellt:

Solche Verstösse im Rahmen einer Nachfahrkontrolle sind erlaubt und daher nicht strafbar, wenn sie im genannten Sinne verhältnismässig sind. Diese Voraussetzung ist nach der zutreffenden Auffassung der Vorinstanzen vorliegend auch in Bezug auf das vom Beschwerdeführer als Rechtsüberholen qualifizierte Manöver seitens der Polizeibeamten erfüllt. Die Videoaufzeichnung (…) enthält keine Anhaltspunkte, die dafür sprechen, dass der Lenker des Lieferwagens dadurch, dass das zivile Polizeifahrzeug rechts an ihm vorbeifuhr, konkret gefährdet worden sein könnte (E. 2.4).

Das Bundesgericht fasst sein Urteil wie folgt zusammen:

Dass die Polizeibeamten weder das Blaulicht noch das Wechselklanghorn eingeschaltet hatten, ist unerheblich, da vorliegend nicht eine dringliche Dienstfahrt (Art. 100 Ziff. 4 SVG) zur Diskussion steht. Liegt keine dringliche Dienstfahrt vor, so steht der beschuldigten Person grundsätzlich weiterhin die Berufung auf den Rechtfertigungsgrund von Art. 14 StGB (oder § 8 Abs. 3 PolG/ZH) offen (Urteile 6B_20/2009 vom 14. April 2009 E. 4.4.2; 6B_288/2009 vom 13. August 2009 E. 3.5). Verkehrsregelverletzungen durch Polizeibeamte sind auch in Fällen, in denen, wie etwa bei Nachfahrkontrollen, weder Blaulicht noch Wechselklanghorn eingesetzt werden, gestützt auf Art. 14 StGB und allenfalls kantonales Polizeirecht erlaubt und somit nicht strafbar, wenn die Verkehrsregelverletzung im Rahmen der Erfüllung polizeilicher Aufgaben erfolgt und verhältnismässig ist. Eine Revision von Art. 100 Ziff. 4 SVG ist hiefür entgegen einer Bemerkung in der Beschwerde (…) nicht erforderlich (E. 3.2).

Das Urteil war übrigens für das erzielte Ergebnis (Abweisung der Beschwerde) völlig unnötig. Es ging um die Frage, ob die Beweise, die durch die nun legale Nachfahrt gewonnen wurden, verwertbar sind. Zur Verwertbarkeit hätte man aber auch kommen können, ohne die Nachfahrt zwar als nicht dringlich und trotzdem als legal qualifizieren zu müssen.

Was die Hinweise auf das kantonale Polizeirecht bezwecken sollen, verstehe ich auch nicht. Ich glaube jedenfalls nicht, dass kantonales Polizeirecht objektiv und subjektiv feststehende Bundesrechtswiderhandlungen rechtfertigen könnte.