Grenzen der Rückzugsfiktion
Manchmal – ausgerechnet im Straf- und Strafprozessrecht aber nicht immer – ist das Recht einfach so anzuwenden, wie es im Gesetz steht. Das gilt jedenfalls für die Rückzugsfiktion in Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO. Dies hat das Bundesgericht in einem Fall entschieden, in dem der Berufungsführer zwar rechtswirksam vorgeladen werden konnte, er dann aber wegen angeblicher Verhandlungsunfähigkeit nicht erschien. Sein erschienener Verteidiger hat dem Gericht ein Arztzeugnis eingereicht und um Dispensation ersucht. Das Obergericht BE ist dann aber auf die Berufung trotzdem nicht eingetreten, allerdings in Verletzung von Bundesrecht (BGer 6B_1339/2023 vom 04.04.2025):
Die Vorinstanz konnte die Vorladung dem Beschwerdeführer rechtsgültig zustellen. Dieser stand in Kontakt mit seinem Verteidiger und liess sich durch diesen auch an der Berufungsverhandlung vertreten. Unter Vorlegung eines Arztzeugnisses ersuchte der Verteidiger um Dispensation des Beschwerdeführers von der Teilnahme an der Berufungsverhandlung und stellte gleichzeitig den Antrag auf Durchführung der Berufungsverhandlung. Vorliegend nimmt die Vorinstanz zumindest implizit an, dass der Beschwerdeführer unentschuldigt der Berufungsverhandlung fernblieb. Eine Verhandlungsunfähigkeit gestützt auf das hinterlegte Arztzeugnis vom 30. Oktober 2023 verneinte sie. Diese Feststellung blieb durch den Beschwerdeführer unangefochten. Dies ändert jedoch nichts an dem Umstand, dass die Strafprozessordnung keine Rückzugsfiktion vorsieht, wenn der vertretene Berufungsführer unentschuldigt säumig geht. Demzufolge vermag die Säumnis des Beschwerdeführers, mithin seine Weigerung persönlich an der Berufungsverhandlung teilzunehmen und mitzuwirken, keinen konkludenten Rückzug der Berufung zu begründen (Urteil 6B_193/2023 vom 16. August 2023 E. 5.3; je mit Hinweisen; s.a. Urteil des EGMR Sejdovic gegen Italien vom 1. März 2006, Nr. 56581/00, § 91 ff.). Die Verweigerung der Mitwirkung an der Berufungsverhandlung durch Nichtfolgeleisten einer Vorladung kann nach Art. 205 Abs. 4 StPO einzig mit einer Ordnungsbusse oder einer polizeilichen Vorführung geahndet werden (E. 1.5).
Erwähnenswert sind allenfalls noch die Kernargumente, mit denen die Vorinstanz die Rückzugsfiktion stützte, jedoch beim BGer nicht durchdrang.
Das Obergericht begründete die Annahme eines konkludenten Rückzugs der Berufung (Art. 386 Abs. 2 StPO) mit dem Gesamtverhalten des Beschwerdeführers:
Zentrale Bedeutung der persönlichen Teilnahme: Die Vorinstanz erachtete die persönliche Stellungnahme des Beschwerdeführers als unerlässlich, weshalb ein schriftliches Verfahren (gem. Art. 406 Abs. 1 StPO) nicht in Betracht kam.
Vereitelung der Befragung und Flucht: Sämtliche Versuche, ihn zu befragen, scheiterten aufgrund seiner Flucht ins Ausland.
Kenntnis der Konsequenzen: Er wurde wiederholt auf die möglichen Folgen seines Nichterscheinens (inkl. der Interpretation als Desinteresse) hingewiesen.
Unentschuldigtes Fernbleiben: Trotz dieser Kenntnis blieb er der Berufungsverhandlung fern. Das eingereichte Arztzeugnis wurde als unzureichend erachtet, um eine Verhandlungs- oder Transportunfähigkeit glaubhaft zu belegen.
Widersprüchliches und rechtsmissbräuchliches Verhalten: Das Einlegen einer Berufung bei gleichzeitiger Verweigerung jeglicher Mitwirkung (trotz freien Geleits) wurde als widersprüchlich und rechtsmissbräuchlich (Verstoss gegen Treu und Glauben, Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO) gewertet.
Ausdruck des Desinteresses: Sein gesamtes Verhalten, insb. die Obstruktion des Verfahrens, lasse unzweideutig auf sein Desinteresse an einer rechtskonformen Durchführung und materiellen Überprüfung des Urteils schliessen.
Abschliessend sei noch erwähnt, dass selbst ein „Totalversäumnis“ – also ein unentschuldigtes Fernbleiben sowohl der beschuldigten Person als auch des Verteidigers – nicht zu einer Rückzugsfiktion geführt hätte. Im vorliegenden Fall war der Beschuldigte amtlich vertreten (vgl. E. 1.2.2 Satz 2 sowie ein früherer Beitrag zur Auslegung von Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO).
Das berüchtigte Obergericht BE:
– hat also Leseschwierigkeiten (Art. 407 Abs. 1 Bst. a StPO);
– und missachtet die zitierte Praxis des Bundesgerichts UND des EGMR in dieser Frage.
Keine weiteren Fragen, Euer Unehren.