Landesverweisung und Mitwirkungspflicht
Ein Beschwerdeführer hat vor Bundesgericht beanstandet, die Vorinstanz habe im Zusammenhang mit der Anordnung der Landesverweisung (Art. 66a StGB) den Untersuchungsgrundsatz (Art. 6 StPO) verletzt. Das Bundesgericht folgt dieser Kritik nicht (BGer 6B_988/2023 vom 50.07.2024) und verweist auf seine nicht in der AS publizierte Rechtsprechung:
Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes geltend macht, geht seine Rüge fehl. Ihn trifft bei der Feststellung von Umständen, die eine individuell-persönliche Gefährdung in seinem Heimatland begründen (vgl. oben E. 1.8.1), trotz Geltung des Untersuchungsgrundsatzes eine Mitwirkungspflicht (Urteile 6B_542/2023 vom 15. Februar 2024 E. 1.3.7.2; 6B_86/2022 vom 22. März 2023 E. 2.1.2; 6B_105/2021 vom 29. November 2021 E. 3.4.2; je mit Hinweisen). Dabei reicht nicht aus, pauschal geltend zu machen, die Vorinstanz hätte die Situation des Beschwerdeführers hinsichtlich der Landesverweisung nicht genüglich abgeklärt, ohne dabei aber diejenigen Umstände begründet vorzubringen, die in seiner konkreten Situation eine Gefährdungslage begründen würden. Lediglich zu bemängeln, seine Flüchtlingseigenschaft, respektive diejenige seiner Eltern, werde nicht berücksichtigt, ebenso wenig (E. 1.8.3, Hervorhebungen durch mich).
Ist das wirklich richtig und wenn ja, wieso?
@KJ: Sie werfen zu Recht die Frage auf, inwieweit, trotz des geltenden Untersuchungsgrundsatzes, eine Mitwirkungspflicht des Beschuldigten besteht. Grundsätzlich obliegt es nicht dem Beschuldigten, seine Unschuld selbst umfassend zu beweisen.
Im Kontext der Prüfung von Vollzugshindernissen bei einer Landesverweisung, insb. wenn es um die Geltendmachung einer individuell-persönlichen Gefährdung im Heimatland geht, zeichnet sich jedoch eine differenzierte Betrachtung ab. Hier scheint nicht nur das BGer in seiner ständigen Rechtsprechung eine solche Obliegenheit zur Substantiierung zu verlangen, sondern auch der EGMR (siehe unten).
Während allgemein bekannte Risiken im Zielland von den Behörden von Amts wegen zu prüfen sind, verhält es sich bei individuellen, nicht offenkundigen Gefährdungen anders. Hier ist es in der Tat primär Aufgabe des Beschuldigten, sich auf ein solches spezifisches Risiko zu berufen und dieses substantiiert darzulegen. Der Beschuldigte ist in aller Regel die beste Informationsquelle für derartige persönliche Gefährdungsmomente.
Die in diesem Zusammenhang vom BGer geforderte Mitwirkung ist dabei nicht als Beweislastumkehr im strafrechtlichen Sinne zu interpretieren. Vielmehr handelt es sich um eine prozessuale Obliegenheit zur Substantiierung und Darlegung. Damit die Behörden ihrer umfassenden Untersuchungspflicht effektiv nachkommen und gezielte Ermittlungen anstellen können, benötigen sie konkrete Anhaltspunkte seitens des Betroffenen, die den Gegenstand der Untersuchung stützen.
Bezeichnenderweise verweist ebenfalls der hier diskutierte BGE unter E. 1.8.1 explizit auf die Rechtsprechung des EGMR.
Auszug E. 1.8.1: „Gemäss der Rechtsprechung des EGMR sind, um ein solches reelles Risiko zu bejahen, restriktive Kriterien anzuwenden. Es gilt unter Betrachtung der Gesamtumstände des Einzelfalls zu erörtern, ob das Risiko einer Behandlung oder Strafe im Sinne von Art. 3 EMRK für den Fall einer Landesverweisung mit stichhaltigen Gründen konkret und ernsthaft glaubhaft gemacht wird (zum Ganzen vgl. BGE 149 IV 231 E. 2.1.5; Urteile des EGMR F.G. gegen Schweden etc.)“.
Dies verdeutlicht, dass die Schweizer Praxis im Einklang mit den völkerrechtlichen Anforderungen steht, die eine aktive Rolle des Betroffenen bei der Darlegung individueller Schutzbedürfnisse vorsehen.