Rechtsmissbräuchliche Verteidigung?

Die konsequente Ausübung der Verteidigungsrechte wird von der Justiz mitunter auch unter dem Aspekt des Rechtsmissbrauchs geprüft. Ein festgestellter Rechtsmissbrauch rechtfertigt dann jeweils, dass das Gesetz für die Strafbehörden nicht mehr gilt.

Ein Beispiel für solche Überlegungen ist der Privatverteidiger, der kurz vor der Hauptverhandlung, die unmittelbar vor Eintritt der Verjährung angesetzt ist, das Mandat niederlegt oder einfach nicht erscheint.

In Fällen von notwendiger Verteidigung führte das zwingend zur Verschiebung der Hauptverhandlung und damit zum Eintritt der Verjährung. Daraus muss man aus Sicht der Verteidigung die Pflicht ableiten, die Verhandlung platzen zu lassen (Art. 128 StPO). Die Praxis behilft sich dann beispielsweise so, dass sie den Fall nicht mehr als Fall von notwendiger Verteidigung qualifiziert. Ein solches Beispiel findet sich in einem aktuellen Entscheid des Bundesgerichts (BGE 6B_90/2019 vom 27.08.2019, Publikation in der AS vorgesehen):

Die Voraussetzungen für eine notwendige Verteidigung sind im zu beurteilenden Fall nicht erfüllt. Der Beschwerdeführer hat weder Untersuchungshaft ausgestanden, noch hat ihm eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr oder eine freiheitsentziehende Massnahme gedroht oder war er unfähig, seine Verfahrensinteressen zu wahren. Zudem war er im Untersuchungsverfahren zunächst von Rechtsanwalt Dr. G. und seit dem 29. August 2017 durch seinen früheren Rechtsanwalt Dr. H. verteidigt (…). Am 12. Juli 2018 legte dieser zwar sein Mandat ohne Angabe von Gründen nieder (…). Für die Phase nach der Mandatsniederlegung durch den früheren Verteidiger hat indes insofern keine Notwendigkeit für eine Verteidigung bestanden, als die Staatsanwaltschaft am 23. Juli 2018 auf ihre persönliche Teilnahme an der Verhandlung verzichtet hat. Damit sind die Voraussetzungen der notwendigen Verteidigung gemäss Art. 130 lit. d StPO weggefallen. Es mag zutreffen, dass die Verfahrensleitung die Bundesanwaltschaft nach der Terminierung der Hauptverhandlung (…), nachdem diese gegen die Ansetzung der Hauptverhandlung keine Einwände erhoben hatte (…), vorgeladen hat (…) und dass die Bundesanwaltschaft im Anschluss daran ihr Erscheinen angekündigt hat (…). Dies schliesst indes nicht aus, dass die Bundesanwaltschaft zu einem späteren Zeitpunkt auf die persönliche Vertretung der Anklage vor Gericht verzichten durfte, zumal sie nicht von Gesetzes wegen zum persönlichen Auftreten verpflichtet war (Art. 337 Abs. 3 StPO) und entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers (…) von der Vorinstanz auch nicht zwingend vorgeladen worden ist (Art. 337 Abs. 4 StPO). Zudem wurden in der Verhandlung keine neuen Beweise abgenommen und waren keine besonderen Schwierigkeiten in sachverhaltsmässiger oder rechtlicher Hinsicht zu erwarten, welche eine Teilnahme der Bundesanwaltschaft hätten als notwendig erscheinen lassen (…). Im Übrigen ist der Verzicht der Bundesanwaltschaft auf das persönliche Erscheinen an der Hauptverhandlung vor dem Hintergrund zu sehen, dass der frühere Verteidiger des Beschwerdeführers sein Mandat kurze Zeit vor der Verhandlung und damit – angesichts der drohenden Verjährung – zur Unzeit niedergelegt hat. Auch im Rahmen der notwendigen Verteidigung verdient eine missbräuchliche Berufung auf die Verteidigungsrechte, namentlich die Benutzung des Rechtsinstituts zur Verfahrensverzögerung, keinen Schutz (BGE 131 I 185 E. 3.2.4). Angesichts der drohenden Verjährung (vgl. angefochtenes Urteil S. 8) durfte die Vorinstanz von einer Verschiebung der Hauptverhandlung absehen (E. 1.5).

Aber was ist mit dem Anspruch auf wirksame Verteidigung und die freie Wahl seines Verteidigers? Kein Problem, denn schliesslich erfolgte die Mandatsniederlegung zur Unzeit und damit rechtsmissbräuchlich und trölerisch:

Bei dieser Sachlage kann offenbleiben, ob die – noch vor dem Verzicht der Bundesanwaltschaft auf Teilnahme an der Verhandlung angesetzte – Frist zur Ernennung eines neuen Verteidigers angesichts der unmittelbar bevorstehenden Hauptverhandlung angemessen bzw. realistisch war, um eine effektive Verteidigung zu gewährleisten.  
In diesem Kontext ist auch keine Verletzung des Rechts auf erbetene Verteidigung ersichtlich. Zwar trifft zu, dass die beschuldigte Person gemäss Art. 129 Abs. 1 StPO berechtigt ist, in jedem Strafverfahren und auf jeder Verfahrensstufe einen Rechtsbeistand im Sinne von Art. 127 Abs. 5 StPO mit ihrer Verteidigung zu betrauen (vgl. auch Art. 32 Abs. 2 BV; Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK). Aus dem Wortlaut der Bestimmung ergibt sich zudem, dass eine (Wahl-) Verteidigung nicht ausgeschlossen werden darf und die beschuldigte Person in der Auswahl (und im Wechsel) ihrer Verteidigung frei ist. Doch ist nach der Rechtsprechung das Recht auf Wahlverteidigung nur verletzt, wenn das Gericht an einem Verhandlungstermin festhält, ohne dass prozessuale Gründe die Ablehnung des Gesuches und die damit verbundene Einschränkung der freien Anwaltswahl rechtfertigen und das Ersuchen nicht trölerisch oder rechtsmissbräuchlich ist (…). Da der frühere Verteidiger des Beschwerdeführers sein Mandat zur Unzeit niedergelegt hat, verletzt das Festhalten der Vorinstanz an der Durchführung der Verhandlung am festgesetzten Termin das Recht auf Wahlverteidigung nicht. 

Das Unzeit-Argument halte ich für falsch Es ist obligationenrechtlicher Natur und betrifft daher nur das Verhältnis zwischen Anwalt und Klient (Art. 404 Abs. 2 OR). Den Staat und seine Rechtspflege schützt es sicher nicht.

Zur Publikation vorgesehen ist der Entscheid aber wohl wegen des Insider-Tatbestands, den ich später anmerken werde.