Verdeckter Ermittler oder „agent provocateur“?
Das Bundesgericht musste aktuell prüfen, ob ein verdeckter Ermittler der deutschen Polizei beim Verkauf von Sprengstoff an den Beschwerdeführer zu weit ging (BGer 6B_832/2024 vom 02.04.2025), was es aber verneinte:
[Der Beschwerdeführer] bestreitet nicht, dass er den vermeintlichen Verkäufer von Sprengstoff, bei dem es sich um einen verdeckten Ermittler der deutschen Polizei handelte, kontaktiert hat. Er bestreitet auch nicht, dass er es war, der von diesem eine unbestimmte Menge Sprengstoff kaufen wollte („explosive, C4 or other, 1-5 Sticks). Vor diesem Hintergrund stellt es keine unzulässige Einwirkung des Ermittlers dar, wenn dieser angab, üblicherweise würden Blöcke zu 500 Gramm verkauft. Dies gilt auch, wenn sich die beiden schliesslich auf 4 Blöcke zu 500 Gramm einigten. Insbesondere kann nicht gesagt werden, der Beschwerdeführer wäre aufgrund der Einwirkung des Ermittlers dazu verleitet worden, mehr Sprengstoff zu kaufen, als er eigentlich wollte. Er macht denn auch nicht geltend, sich damit ausgekannt und daher gewusst zu haben, dass Blöcke von 500 Gramm für seine Zwecke eigentlich zu viel wären. Auch die vereinbarte Gesamtzahl entspricht der Anfrage des Beschwerdeführers gegenüber dem Ermittler (E. 2.2).
Hingegen spricht das Bundesgericht den Beschwerdeführer mangels erwiesener Tatbeteiligung „in dubio pro reo“ vom Vorwurf frei, an einem Sprengstoffanschlag beteiligt gewesen zu sein. Der Freispruch erfolgt, ohne der Vorinstanz explizit Willkür vorzuwerfen und führt folgender Erwägung:
Es kann nicht angehen, den Beschwerdeführer einzig gestützt auf die mit Bezug auf ihn dürftigen Aussagen des Mitbeschuldigten einer schweren Straftat schuldig zu sprechen. Auch ist es nicht an ihm, ein Motiv für eine Falschbelastung oder die augenscheinliche Prahlerei des Mitbeschuldigten beizubringen. Indem die Vorinstanz den Beschwerdeführer mit Bezug auf die Tat vom 30. März 2022 verurteilt, verletzt sie die Unschuldsvermutung. Er ist von den Vorwürfen der Gefährdung durch Sprengstoffe und giftige Gase in verbrecherischer Absicht und der qualifizierten Sachbeschädigung freizusprechen, da seine Täterschaft nicht erwiesen ist (E. 1.4).
Es geschehen noch Wunder! Angesichts der Willkürkognition, die sich das Bundesgericht bei der Beweiswürdigung bekanntlich auferlegt, erstaunt und freut mich dieser Entscheid zugleich.
Einige interessante Aspekte bedürfen – ergänzend zu den obigen Ausführungen – einer vertieften Betrachtung.
1. Strenge Anforderungen an Rügen über Sachverhalt und Beweiswürdigung: Das BGer bekräftigt seine weitaus bekannte ständige Praxis, wonach es Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz nur bei Willkür prüft. Ebenfalls kommt als Beweiswürdigungsregel dem Grundsatz „in dubio pro reo“ im Verfahren vor Bundesgericht keine über das Willkürverbot hinausgehende Bedeutung zu. Die Schwelle hierfür liegt bekanntlich sehr hoch. Dass das Bundesgericht im konkreten Fall bezüglich des Sachverhalts „Bruderholz“ dennoch eingreift und die vorinstanzliche Würdigung als willkürlich qualifiziert, demonstriert, wie gravierend die Mängel gewesen sein müssen. Es zeigt, dass auch hohe Hürden übersprungen werden, wenn die Verurteilung auf einer offensichtlich unhaltbaren Beweisgrundlage fusst – hier insb. auf nicht ausreichend substantiierten und ungenügend gestützten Aussagen vom Hörensagen.
2. Hörensagen zulässig, aber mit Zurückhaltung: Der Entscheid illustriert die heikle Natur von Aussagen vom Hörensagen. Grundsätzlich sind solche im Schweizer Strafprozess nicht per se unverwertbar. Ihre Beweiskraft, insb. wenn sie die Hauptstütze einer Verurteilung bilden sollen, ist stark limitiert. Die Verurteilung des Beschwerdeführers stützte sich massgeblich auf die Aussagen des Mitbeschuldigten gegenüber Dritten – klassisches Hörensagen. Das Gericht rügt zu Recht, dass dies, insb. angesichts der Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Angaben des ursprünglichen Aussagegebers und dem Fehlen direkter, den Beschwerdeführer belastender Beweise, nicht für einen Schuldspruch ausreicht.
Ganz allgemein lässt sich gemäss ständiger Rechtsprechung festhalten, dass die mittelbare Beweisführung nicht ausgeschlossen ist. In einigen BGE ist nachzulesen, dass ein mittelbares Zeugnis nur dann verwendet werden kann, wenn der unmittelbare Zeuge nicht zur Verfügung stehe. Wie in diesem Forum berichtet, kam es in folgendem Fall zu einer Verurteilung aufgrund von Hörensagen.
3. Verfahrenstrennung: Angesichts der Beweisproblematik – in der Annahme, dass der Mitbeschuldigte keine oder nur wenig sachdienliche Aussagen gemacht hatte – wäre ein alternativer prozessualer Weg denkbar gewesen, und zwar eine Verfahrenstrennung nach Art. 30 StPO.
Wäre der Mitbeschuldigte in einem separaten Verfahren rechtskräftig verurteilt worden, hätte er im Anschluss im vorliegenden Verfahren gegen den Beschwerdeführer als Zeuge einvernommen werden können. Als Zeuge unterläge er bekanntlich der Wahrheitspflicht und wäre, bis auf eng begrenzte Ausnahmen, aussagepflichtig gewesen. Dies hätte eine direktere und potenziell robustere Beweiserhebung ermöglicht, anstatt sich auf die unsichere Basis von Hörensagen zu stützen. Ob dies zu einem anderen Ergebnis geführt hätte, bleibt spekulativ.
Obwohl der Ansatz, einen Mitbeschuldigten durch eine Verfahrenstrennung als grundsätzlich aussage- und wahrheitspflichtigen Zeugen „verfügbar“ zu machen, wäre dies im vorliegenden Fall (BGE 6B_832/2024) aufgrund des offensichtlich gleichen und eng verflochtenen Lebenssachverhalts wohl kaum von den Strafbehörden in Erwägung gezogen worden (zumindest scheint es in casu keine Verfahrenstrennung gegeben zu haben).
Die Anforderungen an eine Verfahrenstrennung sind gemäss Art. 30 StPO und der bundesgerichtlichen Rechtsprechung hoch. Es bedarf hierfür triftiger, sachlicher Gründe, die nach objektiven Kriterien zu beurteilen sind. Eine drohende Verletzung des Beschleunigungsgebots (Art. 5 Abs. 1 StPO) kann einen solchen sachlichen Grund darstellen.
Kritisch wird es jedoch, wenn eine Verfahrenstrennung primär aus prozesstaktischen Überlegungen angestrebt wird, potenziell mit dem Ziel, die Verfahrensrechte der beschuldigten Personen zu beschneiden (z. Bsp. durch Erschwerung der Akteneinsichts- und Teilnahmerechte).
Wichtig – auch wenn dieser Punkt nicht unmittelbar mit dem hier diskutierten BGE zusammenhängt – darauf will ich unter Ziff. 3 hinaus: Eine solche, insb. nicht auf objektiven sachlichen Gründen basierende Verfahrenstrennung wäre bedenklich und müsste von der Verteidigung konsequent gerügt werden.
„Dass das Bundesgericht im konkreten Fall bezüglich des Sachverhalts „Bruderholz“ dennoch eingreift und die vorinstanzliche Würdigung als willkürlich qualifiziert, demonstriert, wie gravierend die Mängel gewesen sein müssen. Es zeigt, dass auch hohe Hürden übersprungen werden, wenn die Verurteilung auf einer offensichtlich unhaltbaren Beweisgrundlage fusst […]“.
Ihre Folgerung WIRKT so, als würden sie von diesem Einzelurteil (das korrekt sein mag, aber solange die Beschwerde bzw. das vorinstanzliche Urteil und die vollständigen Strafakten nicht vorliegen, bleibt dies Spekulation) auf die ständige Praxis des Bundesgerichts schliessen. Ich finde das (mindestens) naiv, denn es lässt sich belegen, dass das Bundesgericht auch ohne jegliche Beweisgrundlage Verurteilungen schützt.
@En garde, avant-garde!: Touché?
Erlauben Sie mir, auf Ihren Einwand einzugehen.
Folgende Punkte wurden in diesem Zusammenhang von mir hervorgehoben:
1. Das BGer hält grundsätzlich an seiner strengen Willkürpraxis fest (nichts Neues). Damit sind die allseits geläufigen Textbausteine gemeint:
„Die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz kann vor Bundesgericht nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig bzw. willkürlich ist etc. … Als Beweiswürdigungsregel kommt dem Grundsatz „in dubio pro reo“ im Verfahren vor Bundesgericht keine über das Willkürverbot von Art. 9 BV hinausgehende Bedeutung etc.“
2. Trotz dieser Hürde hat es im Sachverhalt „Bruderholz“ eingegriffen, weil die Beweisgrundlage offensichtlich unhaltbar war.
3. Ergänzend zu Ihrer Bemerkung „Einzelfall“: Ich stütze mich nicht auf einen Einzelfall. Es kommt zwar selten vor, doch das BGer heisst Beschwerden unter Anwendung von Ziff. 1 (oben), betreffend Sachverhalt oder Beweiswürdigung, gelegentlich gut.
Es wird aber nirgends suggeriert, das BGer liefere konstant „faire“ Urteile. Im Gegenteil: Dass die Schwelle überhaupt auf Sachverhalts- oder Beweisrügen einzutreten bekanntlich sehr hoch ist, bedeutet zwangsläufig, dass durchaus auch höchst problematische Entscheide entstehen können.