Wechsel der amtlichen Verteidigung
Bei Beschwerden im Zusammenhang mit einem (verweigerten) Wechsel der amtlichen Verteidigung (Art. 134 StPO) wiederholt das Bundesgericht gerne Textbausteine wie den folgenden (hier aus BGer 7B_146/2025 vom 23.05.2025):
Die Wahl der Verteidigungsstrategie ist in den Grenzen einer sorgfältigen und effizienten Ausübung des Offizialmandats grundsätzlich Aufgabe der amtlichen Verteidigung (Urteile 7B_764/2024 vom 3. April 2025 E. 3.3; 6B_468/2024 vom 15. Januar 2025 E. 4.2; 7B_304/2023 vom 6. Mai 2023 E. 2.1; je mit Hinweisen). Zwar hat diese die objektiven Interessen der beschuldigten Person möglichst im gegenseitigen Einvernehmen und in Absprache mit dieser zu wahren (Urteile 7B_304/2023 vom 6. Mai 2024 E. 2.1; 6B_76/2020 vom 10. März 2020 E. 3.1; je mit Hinweisen; siehe dazu eingehend WOLFGANG WOHLERS, Die Pflicht der Verteidigung zur Wahrung der Interessen der beschuldigten Person, ZStrR 2012, S. 55 ff.). Indessen agiert die amtliche Verteidigung im Strafprozess nicht als blosses unkritisches „Sprachrohr“ ihrer Mandantschaft. Insbesondere liegt es in ihrem pflichtgemässen Ermessen zu entscheiden, welche Prozessvorkehren und juristische Standpunkte sie (im Zweifelsfall) als sachgerecht und geboten erachtet (Urteile 7B_304/2023 vom 6. Mai 2023 E. 2.1; 1B_450/2022 vom 30. Mai 2023 E. 4.2; 1B_479/2022 vom 21. März 2023 E. 2.2; je mit Hinweisen).
Sorry, liebes Bundesgericht, das ist einfach falsch und müsste zumindest wieder einmal hinterfragt werden. Es ist sicher nicht der Anwalt, der entscheidet und schon gar nicht gegen den Willen des eigenen Mandanten. Dass der Anwalt kein unkritisches Sprachrohr seiner Mandantschaft sein soll, mag sein. Damit lässt sich aber nicht begründen, dass man gegen den informierten und aufgeklärten Willen seines Mandanten handeln darf. Der Anwalt ist Beistand des Beschuldigten und nicht der Justiz oder der Strafverfolgung.
„die objektiven Interessen der beschuldigten Person“ ist auch mal wieder so ein Nichtssagender Begriff. Es überfordert die Bundesrichter*innen wohl, dass es auch Interessen von Beschuldigten geben könnte, die sie selber nicht nachvollziehen können, so dass sie das so formulieren müssen…
„die objektiven Interessen der beschuldigten Person“ ist auch mal wieder so ein Nichtssagender Begriff.
Doch ist er. z.B. will ein Beschuldigter freigesprochen werden; will Strafreduktion; will bessere Haftbedingungen etc. pp.
Es überfordert die Bundesrichter*innen wohl, dass es auch Interessen von Beschuldigten geben könnte, die sie selber nicht nachvollziehen können, so dass sie das so formulieren müssen…
Ein Bundesrichter kennt die Interessen eines Beschuldigten sehr wohl und sowieso muss das BGer nur Interessen nachvollziehen können, die es auch behandeln muss, alles andere DARF es nicht interessieren.
@Laie: genau so ist es! Unverständlich, wie hier Gegenteiliges fast schon zwanghaft konstruiert wird!
Auch wenn die meisten der Beschuldigten diese Interessen haben, ändert es ja nichts daran, dass das subjektive Interessen sind. Denn wenn ein Beschuldigter nun – entgegen der Regel – nicht freigesprochen werden will? Soll es ja geben. Dann ist es doch sehr paternalistisch, ihm dieses Interesse abzusprechen.
Bei Ihrem zweiten Kommentar kann ich leider nicht verstehen, was Sie meinen. Woher ein Bundesrichter diese Interessen kennen soll (ich unterstelle mal, dass die wenigsten Bundesrichter schon mal Beschuldigte waren, ganz abgesehen davon, dass sie meist aus einer ganz andere sozioökonomischen Schicht wie die meisten Beschuldigten kommen und einen anderen Habitus als die meisten Beschuldigten aufweisen (siehe Bourdieu) und daher deren Situation, ganze Art des Denkens etc. gar nicht nachvollziehen können.
@bs
Die „objektiven Interessen“ sind eine Fiktion, denn ohne solche wäre ein Gericht nicht handlungsfähig (es würde quasi an „Anträgen“ fehlen) – z.B. bei einem komplett unkooperativem Beschuldigten.
Denn wenn ein Beschuldigter nun – entgegen der Regel – nicht freigesprochen werden will?
Das darf das Gericht nicht. Es muss dem Prozess folgen (StPO, Wahrheitsfindung, Strafermessen etc.). Ansonsten könnte man ja auch Leute verurteilen, die Taten gestehen, die sie nicht begangen haben, während der wahre Täter frei herumläuft. Wir hätten dann wahrscheinlich Dienstleistungen a la „Fake Tatgesteher“, „Fake Zeuge“ etc.
Sowieso wäre ein solcher Wunsch („nicht freigesprochen“) irrational und daher nicht schlüssig – kämen wieder zur Handlungsunfähigkeit zurück. Man kann irrationales nicht verstehen – geschweige denn behandeln.
Dann ist es doch sehr paternalistisch, ihm dieses Interesse abzusprechen.
Ja und? Gesetze sind nunmal paternalistisch. Jedes Verkehrsschild ist bevormundend. Sicherheitsgurte auch… Verstehe nicht ganz, wieso das überhaupt eine Rolle spielen sollte?
Bei Ihrem zweiten Kommentar kann ich leider nicht verstehen, was Sie meinen. Woher ein Bundesrichter diese Interessen kennen soll (ich unterstelle mal, dass die wenigsten Bundesrichter schon mal Beschuldigte waren, ganz abgesehen davon, dass sie meist aus einer ganz andere sozioökonomischen Schicht wie die meisten Beschuldigten kommen und einen anderen Habitus als die meisten Beschuldigten aufweisen (siehe Bourdieu) und daher deren Situation, ganze Art des Denkens etc. gar nicht nachvollziehen können.
Ich meine das was ich geschrieben habe. Das Gericht darf das ganz einfach nicht („Situation, ganze Art des Denkens nachvollziehen“). Es fehlt schlicht die Rechtsgrundlage so etwas zu tun (Stichwort: Willkür). Und das wäre auch nicht möglich/realistisch – wieder Handlungsfähigkeit.
@KJ Sehr gutes Statement. Nur der letzte Teilsatz trifft m.E. das Problem nur sehr bedingt. Ich verstehe den Verteidiger generell – nicht nur den Amtlichen – als Bergführer, der auch nie zu einer schwachsinnigen Routenwahl Hand bieten würde.
Ich stimme zu: Ein Anwalt darf nicht gegen den Willen seines Mandanten handeln. Dieser Grundsatz setzt jedoch einen urteilsfähigen Mandanten voraus.
Im vorliegenden Fall, wo übrigens eine notwendige amtliche Verteidigung vorliegt, fehlt genau das: Dem Beschuldigten wurde eine – im Verfahren nicht substantiiert bestrittene – Urteilsunfähigkeit attestiert. Daher existiert kein „informierter Wille“, dem die Verteidigung folgen könnte. Stattdessen ist der Anwalt verpflichtet, als Treuhänder die objektiven, wohlverstandenen Interessen des Mandanten zu wahren. Das ist keine Anmassung, sondern die Erfüllung seiner professionellen Verantwortung bei der Verteidigung eines urteilsunfähigen Mandanten.
Die Verweise in E. 3.3.2 (nach grober Durchsicht) auf frühere BGE wo mehrheitlich auch therapeutische Massnahmen im Raum standen, sind entscheidend. Sie lassen erkennen, dass das BGer keine allgemeine Regel zur Missachtung des Mandantenwillens aufstellt. Vielmehr wird hier eine spezifische Betrachtung für jene heiklen Fälle gemacht, in denen die Urteilsfähigkeit des Mandanten fraglich ist. In genau diesen Situationen muss der amtliche Verteidiger eine grössere Eigenverantwortung tragen, um die objektiven Interessen seines Mandanten zu schützen.
Unter „objektiven Interessen“ verstehe ich den mutmasslichen Wille des Mandanten – also die Entscheidung, die er treffen würde, wäre er in der Lage, seine Situation und die Optionen bei voller Urteilsfähigkeit abzuwägen. Dies erfordert vom Verteidiger einen anspruchsvollen Perspektivenwechsel.
@Rob: Ihre Position ist stark aber paternalistisch geprägt. Welcher Anwalt kann sich anmassen zu beurteilen, ob sein Mandant urteilsfähig ist und wie er entscheiden würde, wenn er es wäre. Das ist nicht möglich und wenn es nicht möglich ist, dann darf der Anwalt nicht gegen den erklärten Willen seines Mandanten vorgehen. Zweifel an seiner Urteilsfähigkeit – falls es das bei der Bestimmung seiner eigenen Interessen überhaupt geben kann – ändern daran nichts. Dem Mandanten allein steht es zu zu bestimmen, was sein Interesse ist. Ein „wohlverstandenes“ oder objektives Interesse gibt es nicht. Die Würde des Menschen beginnt damit, ihn als selbstbestimmtes Subjekt zu anerkennen. Aus diesem Grund ist auch die notwendige Verteidigung gegen den Willen des Mandanten abzulehnen. Sie macht den Verteidiger zum Diener der Rechtspflege. Das widerspricht übrigens auch Art. 128 StPO.