Willkürlich verurteilt
Das Obergericht AG hat einen Mann u.a. wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von über drei Jahren verurteilt. Dabei ist das Obergericht bei der Feststellung des Sachverhalts aber in Willkür verfallen und hat dann auch gleich noch die erforderliche Subsumption unterlassen (BGer 6B_606/2014 vom 01.04.2025).
Das Bundesgericht zum Subsumptionsfehler:
Die Vorinstanz beschränkt sich in Erwägung 2.8 weitgehend damit, den Sachverhalt gemäss ihrer Beweiswürdigung nochmals zusammenzufassen, um sodann anzufügen, dieser Sachverhalt erfülle den Tatbestand der Vergewaltigung. Eigentliche rechtliche Erwägungen zum Tatbestand der Vergewaltigung im Sinne einer Subsumption sind dem vorinstanzlichen Urteil nicht zu entnehmen, was umso mehr zu beanstanden ist, als die Schlussfolgerung der Vorinstanz, der Beschwerdeführer habe durch Gewalt den Zustand der Beschwerdegegnerin 2 ausgenutzt, durchaus Fragen in rechtlicher Hinsicht aufwirft.
Bei der Willkür stellte das Bundesgericht fest, was in der Praxis immer wieder zu beobachten ist, und zwar nicht nur im Aargau:
Insgesamt setzt sich die Vorinstanz im Rahmen der Beweiswürdigung mit zahlreichen Widersprüchen zum angeklagten Tathergang nicht auseinander, und hinterfragt die Plausibilität des von ihr als erstellt erachteten Sachverhalts nicht. Stattdessen scheint sie dem widersprüchlichen Aussageverhalten des Beschwerdeführers ein besonderes Gewicht beizumessen, wobei der blosse Hinweis der Vorinstanz, der Beschwerdeführer sei verteidigt gewesen und habe zwischen den Einvernahmen genügend Zeit gehabt, seine Aussagen richtig zu stellen bzw. sich Gedanken zu den Konsequenzen zu machen, vor dem dargelegten Hintergrund nicht verfängt. Die vorinstanzliche Beweiswürdigung erweist sich daher als unhaltbar und damit willkürlich (E. 4.5, Hervorhebungen durch mich).
Man beurteilt nicht den Sachverhalt, sondern das Aussageverhalten. Findet man Widersprüche oder gar Lügen beim Beschuldigten (Widersprüche in den Aussagen der angeblichen Opfer darf man nicht thematisieren, um nicht in Opferbashing zu verfallen), gilt der Anklagesachverhalt als bewiesen. Die Beschuldigten werden nicht für strafbare Handlungen verurteilt, sondern für ihr Aussageverhalten.
Dient das Aussageverhalten des Beschuldigten als Ersatz für fehlende Beweise seines angeblich strafbaren Verhaltens?
Mangels detaillierter Aktenkenntnis ist eine abschliessende, objektive Beurteilung kaum möglich. Eine Rückweisung an die Vorinstanz erscheint jedoch sachlich gerechtfertigt. Nicht unberücksichtigt bleiben darf dabei, dass sich der Beschwerdeführer (Beschuldigter) irgendwann im Verfahren wahrscheinlich selbst belastet hat:
E 2.2: „Die Vorinstanz hatte demzufolge keine Zweifel an der Richtigkeit der Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 (Opfer) und erachtete es als erstellt, dass der Beschwerdeführer am 2. September 2021 den für ihn erkennbaren alkoholisierten und unter Drogeneinfluss stehenden Zustand der Beschwerdegegnerin 2, die er als nicht mehr zurechnungsfähig beurteilt habe, ausgenutzt habe.“
Je nachdem, zu welchem Zeitpunkt der Beschwerdeführer „diese Zurechnungsfähigkeit der Beschwerdegegnerin 2 beurteilt hatte“, könnte er damit zumindest subjektiv den Vergewaltigungs-Auffangtatbestand der Schändung nach Art. 191 StGB (in der Fassung vom 1. Juli 2021) erfüllt haben:
„Wer eine urteilsunfähige oder eine zum Widerstand unfähige Person in Kenntnis ihres Zustandes zum Beischlaf, zu einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung missbraucht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe bestraft.“
Dass der Beschwerdeführer selbst eine Einordnung seines Verhaltens als sexuelle Nötigung ins Spiel bringt, ist erwähnenswert – möglicherweise aber auch taktisch motiviert:
„Eventualiter sei das Urteil des Obergerichts aufzuheben, der Beschwerdeführe wegen sexueller Nötigung zu verurteilen und die Sache zur neuen Strafzumessung an dieses zurückzuweisen.“
Gestützt auf die oben zitierte Aussage zum Wissen des Beschwerdeführers über die mangelnde Zurechnungsfähigkeit der Beschwerdegegnerin 2 sowie in Anbetracht seines Eventualantrags drängt sich der Schluss auf, dass er ein Delikt gegen die sexuelle Integrität der Beschwerdegegnerin 2 begangen haben könnte.
Ist die Kenntnis der Urteilsunfähigkeit erforderlich? Oder gilt die ehemalige Formulierung zum Tatzeitpunkt?
Artikel 191 des Strafgesetzbuches (StGB) lautet:
„Wer eine urteilsunfähige oder eine zum Widerstand unfähige Person zum Beischlaf, zu einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung missbraucht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe bestraft.“
Früher schien im Gesetz der Zusatz „in Kenntnis“ enthalten gewesen zu sein, mittlerweile ist das offenbar nicht mehr der Fall.
1. Kenntnis der Urteilsunfähigkeit erforderlich?
Sie sprechen einen wichtigen Punkt an. Nach altem Recht – konkret nach Art. 191 aStGB (in der Fassung vom 1. Juli 2021) – scheinen die materiellen Voraussetzungen für die Erfüllung des Straftatbestands enger gefasst zu sein.
Der Gesetzestext enthielt ausdrücklich das Wissen um den Zustand des Opfers als eigenständiges, hervorgehobenes Tatbestandsmerkmal. Eine rein wörtliche Auslegung des Artikels legt nahe, dass der Täter positiv wissen musste, dass die betroffene Person urteils- oder widerstandsunfähig war. Man könnte daher folgern, dass für die Erfüllung des Straftatbestands der Schändung ein direkter Vorsatz hinsichtlich dieser Kenntnis erforderlich sei. Nach ständiger Rechtsprechung genügte jedoch auch Eventualvorsatz (vgl. z. Bsp. BGE 6B_316/2012, E. 3.1). Bereits nach altem Recht resp. Rechtsprechung war demnach die Schwelle für das erforderliche Wissen des Täters niedriger. Es reichte, wenn der Täter es für möglich hielt und billigend in Kauf nahm, dass die betroffene Person urteils- oder widerstandsunfähig war.
Im Zuge der Revision des Sexualstrafrechts wurde dieser Punkt ausdrücklich aufgegriffen. So hält die Kommission für Rechtsfragen des Ständerates in ihrem Bericht vom 17. Februar 2022 unter Ziff. 3.7.2 fest, dass «in Kenntnis ihres Zustandes» nicht mehr explizit erwähnt werden muss. Dies entspricht den allgemeinen strafrechtlichen Regeln. Es geht bei Art. 191 StGB darum, dass der Täter direktvorsätzlich oder eventualvorsätzlich handeln muss.
2. Anwendung des alten oder neuen Rechts?
Die Frage, ob das alte oder das neue Recht zur Anwendung gelangt, richtet sich nach dem Grundsatz der lex mitior. Ändert sich das Gesetz zwischen Tatzeit und Urteil, findet gemäss Art. 2 Abs. 2 StGB das mildere Recht Anwendung.
Stützt man sich auf die angebliche Aussage des Beschuldigten, wonach er die Beschwerdegegnerin 2 (das Opfer) als nicht mehr zurechnungsfähig eingeschätzt habe, so liegt ohnehin direkter Vorsatz nahe. In diesem Fall stellt sich die Frage der Anwendbarkeit des milderen Rechts nicht mit praktischer Relevanz, da zumindest der subjektive Tatbestand unter beiden Rechtsnormen erfüllt sein dürfte.
Der Vollständigkeit halber sei abschliessend angemerkt, dass das BGer grundsätzlich das Recht anwendet, das zum Zeitpunkt des Urteils der Vorinstanz in Kraft war (vgl. BGE 145 IV 137 E. 2 ff.). Im vorliegenden Fall wurde der kantonale Entscheid am 12. Juni 2024 gefällt – also kurz vor dem Inkrafttreten des revidierten Sexualstrafrechts vom 1. Juli 2024. Somit ist in diesem bundesgerichtlichen Verfahren sowieso Art. 191 aStGB anwendbar. Erst nach der Rückweisung an die Vorinstanz, wie sie in casu erfolgt ist, findet der Grundsatz der lex mitior erneut Anwendung (vgl. BGE 145 IV 137 E. 2.8 i.V.m. E. 2.5).
Ja man muss ja auch nicht schuldig sein nur der Spruchkörper darf kein Zweifel haben, durch das wiedersprüchliche Ausssageverhalten wurden alle Zweifel beseitigt, das liegt doch noch im Ermessen