Würdigungsvorbehalt v. Verschlechterungsverbot
Das Bundesgericht hat gestern einen bemerkenswerten Fall ins Netz gestellt, der leider nicht zur Publikation in der AS vorgesehen ist (BGer 6B_505/2024, Urteil vom 10.09.2025).
Im Zentrum stand die Frage, ob die Berufungsinstanz eine erstinstanzliche Verurteilung wegen Körperverletzung in einen versuchten Mord umwandeln kann, wenn die Staatsanwaltschaft ihre Berufung auf das Strafmass beschränkt hatte, vor Schranken dann aber eine Verurteilung wegen versuchten Mordes beantragte. Das Kantonsgericht VD hat diese Frage bejaht, den Parteien (immerhin) einen Würdigungsvorbehalt nach Art. 344 StPO angekündigt und dann wegen versuchten Mordes verurteilt.
Das Bundesgericht kassiert das Urteil und stellt fest, dass Art. 344 StPO nicht dazu diene, das Verbot der reformatio in peius (Art 391 Abs. 2 StPO) zu übersteuern. Die Frage nach der Schuld und damit nach der rechtlichen Würdigung durfte damit nicht mehr Thema sein. Die Vorinstanz hat somit das Verschlechterungsgebot verletzt.
Gerügt hatte dies der Beschwerdeführer übrigens nicht:
Bien que cette violation du droit fédéral n’ait pas été soulevée par le recourant, son caractère manifeste justifie que le Tribunal fédéral s’en saisisse d’office (art. 106 al. 1 LTF) [E. 2.3.3].
Gerügt hatte dies der Beschwerdeführer übrigens nicht:
Deshalb wird die Parteientschädigung gekürzt… Siehe E. 2.4
Das BGer hat von „Amtes wegen geprüft“, weil es hier eine „offensichtliche Rechtsverletzung“ sah (siehe E.1 & E. 2.3.3), aber diese „Offensichtlichkeit“ scheint wohl nur für den Anwalt zu gelten, nicht aber für die Vorinstanz… Dass die Rechtsverletzung offensichtlich war, hat nur für den Anwalt (bzw. dessen Klient) Konsequenzen, nicht aber für das Gericht (Vorinstanz), die das entschied… Crazy
Die Parteientschädigungsregelung durch das Bundesgerichts ist nichts anderes als Rechtsverhinderung. Noch wenn die Beschwerde 140 Seiten lang ist (sein muss, weil es so viel zu rügen gibt) und das Bundesgericht ihr auf über 100 Seiten zu 90% Recht gibt, bekommt der Anwalt nur die lächerlichen CHF 3’000.00. Man kann ja nichts dagegen tun. Aber welche Verachtung kommt denn da zum Ausdruck? – Jüngst meinte Ex-Präsident Mayer in der SJZ, die vielen Rechtsuchenden missachteten das Bundesgericht durch ihre vielen Tatsachenbeschwerden. Das richtet sich klar gegen die ungehörigen Anwälte, die Arbeit machen. Vielleicht sind es aber einfach die Vorinstanzen, die die Tatsachen missachten. Dazu eine willkürliche Schwelle für Willkür am Bundesgericht. Ohne Wahrheit kann es aber keine Gerechtigkeit geben. Doch darum geht es in der Justiz je länger je weniger.
Willkür ist per Definition schwer zu fassen. Wo beginnt sie, wo endet sie? Liegt sie bereits im Ermessensspielraum (= was ja eigentlich auch nichts anderes als Willkür ist)? Anders gesagt: Willkür ist willkürlich. Irrationales kann nicht rationalisiert werden.
Wäre alles eindeutig und starr geregelt, bräuchten wir keine Richter mehr.
Anders gesagt: Man kann von Richtern nicht verlangen, niemals willkürlich zu handeln – denn genau das gehört zu ihrem Beruf. Würden sie jede Entscheidung bloss nach Schema F treffen, wären sie überflüssig und wir bräuchten keine Richter mehr.
Wenn ich noch etwas weiter schwurbeln darf: In eurem Berufsstand – Richter, Anwälte, Juristen – gibt es viele, die sich in Vereinigungen wie Lions Club, Rotary, Freimaurer oder ähnliche Netzwerke einbringen. Offiziell geht es dort natürlich nicht um Posten oder Aufträge. Doch in solchen Kreisen wird beispielsweise König Salomo hoch verehrt, insbesondere sein „göttlicher Verstand“ und seine Urteilsfähigkeit – man denke an die berühmte Geschichte mit der Teilung des Neugeborenen. Kurz gesagt: Eure Zunft feiert die Willkür und erhebt sie zum Ideal, weil ihr davon überzeugt seid, besser zu wissen, was richtig ist.
Der Grund, warum ihr in solche Denkfallen („Mindtraps“) geratet, ist, dass ihr nach einer Art „M-Theorie des Rechts“ sucht – einem Modell, das für jede Situation gilt, ein universelles System von Regeln und Verfahren. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ihr überhaupt Juristen geworden seid: Das Recht ist selbst ein geschlossenes Gedankengebäude. Aus demselben Grund zieht es euch zu Gnosis, zu Religion oder Theologie, zu Star Trek oder Comics – alles sind vereinfachte Modelle der Realität, geistige Zufluchtsorte für Menschen mit dieser Denkweise.
Keine Sorge, ich nehme mich da nicht aus – auch ich verfalle immer wieder solchen Mindtraps.
So viel zur Abschweifung für heute.
A.M: Willkür ist offensichtlich falsche Tatsachenfeststellung oder Rechtsanwendung. Willkür ist überhaupt nicht schwer zu fassen, denn es geht per definitionem um offensichtliche Fehler, was ins Auge sticht. Das ist nicht mit Ermessen zu verwechseln. Ermessen ist nötig, Ermessensüberschreitung ist Willkür. Man kann höchstens diskutieren, was nun offensichtlich ist und was nicht. Aber keine Sorge: Das Bundesgericht weiss das, ganz bestimmt.