Tonaufzeichnung ersetzt schriftliche Protkollierung nicht

Ein Berufungsgericht darf nicht kassatorisch entscheiden, wenn die festgestellten Verfahrensmängel nicht gravierend sind und im Berufungsverfahren geheilt werden können. Dies ist einem neuen Grundsatzentscheid des Bundesgerichts zu entnehmen (BGE 6B_32/2017 vom 29.09.2017, Publikation in der AS vorgesehen). So könne formalistischer Leerlauf und unnötige Verzögerungen vermieden werden.

Im konkreten Fall hatte die Vorinstanz eine Verletzung der Befragungspflicht (Art. 341 StPO) festgestellt. Weil die Beschuldigten aber Gelegenheit hatten, sich zu äussern, verneinte das Bundesgericht einen gravierenden Verfahrensfehler:

Das zweistufige Verfahren mit einem vollkommenen Rechtsmittel bringt es mit sich, dass die Berufungsinstanz sich mit Behauptungen und Beweisen auseinandersetzen muss, die dem erstinstanzlichem Gericht nicht vorlagen (…). Ob im zu beurteilenden Fall die Befragung der Angeklagten gesetzeskonform durchgeführt wurde, kann mithin letztlich offenbleiben, da allfällige Mängel unter den gegebenen Umständen nicht als derart gravierend erschienen, dass die Rückweisung zur Wahrung der Parteirechte unumgänglich gewesen wäre. Jene wären in der Berufungsverhandlung vielmehr ohne Weiteres heilbar gewesen (E. 6.3.2).
Dass die erste Instanz kein Verhandlungsprotokoll geführt hatte, war ebenfalls nicht gravierend. Klargestellt hat das Bundesgericht aber immerhin, dass Tonaufzeichnungen ein schriftliches Protokoll nicht ersetzen:
Prozessrelevante Vorgänge müssen schriftlich-lesbar oder mindestens bildlich-visuell erfassbar dargestellt werden. Mündliche Verfahrensvorgänge sind demnach in Schriftform zu übertragen (…). Art. 76 Abs. 4 StPO erlaubt zwar, dass Verfahrenshandlungen ganz oder teilweise auch in Ton oder Bild festgehalten werden können. Dies kann indes nur zusätzlich zur schriftlichen Protokollierung erfolgen (vgl. auch Art. 235 Abs. 2 ZPO). Die Aufnahme mit technischen Hilfsmitteln vermag das schriftliche Protokoll somit zwar zu ergänzen, nicht aber zu ersetzen. Auf die Schriftform kann daher grundsätzlich nicht verzichtet werden (…).
Das Festhalten am Erfordernis des Schriftprotokolls bezweckt, die Strafbehörden und die Verfahrensbeteiligten davon zu entbinden, stundenlang Aufzeichnungen anzuhören. Das schriftliche Protokoll erlaubt ihnen, sich rasch einen Überblick über die durchgeführte Beweiserhebung zu verschaffen (…). Die Bestimmung von Art. 76 Abs. 4 StPO schliesst in diesem Sinn – jedenfalls für Einvernahmen im Vorverfahren – nicht aus, dass das schriftliche Protokoll erst nachträglich auf der Grundlage akustischer oder audiovisueller Aufzeichnungen erstellt wird. Die Beweiserhebung wird dadurch nicht nur umfassender, sondern auch authentischer protokolliert, als dies bei einer parallelen Protokollierung der Fall wäre (OBERHOLZER, a.a.O., N. 1277) [E. 8.3].
Nicht ganz einfach war übrigens auch die Eintretensfrage, die das Bundesgericht m.E. aber überzeugend löst.
Ein schaler Nachgeschmack bleibt dennoch. Er liegt darin, dass erstinstanzlich begangene Verfahrensfehler keine Konsequenzen zu haben scheinen. Ein erstinstanzlicher Richter hat faktisch “carte blanche”.