Anrechnung von prozessualer Haft an ambulante Massnahmen?

Im Kanton Zürich ist ein Verfahren gegen einen schuldunfähige Beschuldigten geführt worden. Das Gericht sprach ihn aber nicht etwa frei, sondern stellte im Dispositiv fest, er habe die zur Anklage gebrachten Tatbestände im Zustand der nicht selbstverschuldeten Schuldunfähigkeit erfüllt (das halte ich für gesetzeswidrig, spielt hier aber keine Rolle). Das Gericht sah von einer Strafe ab (wenigstens das) und ordnete eine ambulante Massnahme in Sinne von Art. 63 Abs. 1 StGB verbunden mit Bewährungshilfe an. Des Weiteren sprach es dem Beschuldigten für die erstandene Haft einen Betrag von CHF 1,600.00 zuzüglich Zins als Genugtuung für 292 Tage Untersuchungshaft zu. Das Obergericht hat den Entscheid bestätigt.

Die Oberstaatsanwaltschaft hat den Entscheid des Obergerichts vorerst erfolgreich angefochten (BGE 6B_675_2018 vom 12.08.2019, Publikation in der AS vorgesehen). Es ging ihr um die Frage der Anrechnung bei einer ambulanten Massnahme (vgl. BGE 141 IV 236 bei stationären Massnahmen). Das Bundesgericht scheint unsicher zu sein, ob es diese Frage schon entschieden hat und drückt dies wie folgt aus:

Soweit ersichtlich hat sich das Bundesgericht hierzu noch nicht geäussert (E. 2.7).

Weitere Unsicherheiten ergeben sich aus der Natur der Sache. Die Lösung besteht darin, die Frage dannzumal in einem nachträglichen Verfahren zu klären:

Eine hypothetische Analyse, in welcher der mit der ambulanten Massnahme verbundene Freiheitsentzug kürzer bzw. geringer ausfallen könnte als die erstandene Haft, erscheint mit der Beschwerdeführerin im jetzigen Zeitpunkt nicht als angebracht. Die Frage, ob Überhaft vorliegt, welche nach Art. 431 Abs. 2 StPO zu entschädigen ist, wird die Vorinstanz vielmehr im Rahmen eines selbstständigen nachträglichen Verfahrens im Sinne von Art. 363 StPO zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich nach Ablauf der ambulanten Massnahme, zu beurteilen haben. Zum jetzigen Zeitpunkt entfällt damit ein Entschädigungsanspruch und die Vorinstanz verletzt durch Nichtanwendung von Art. 431 Abs. 2 StPO Bundesrecht (E. 2.9).

Das eigentliche “Highlight” stellt aber sicher folgende offenbar primär fiskalisch motivierte Erwägung des Bundesgerichts zur “Anrechnung pro forma”) dar:

Dass es sich bei der Anrechnung im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung im Ergebnis um eine Anrechnung pro forma – d.h. ohne tatsächliche Verkürzung des Massnahmevollzugs – handelt, ist hinzunehmen. Wäre eine solche Anrechnung nicht möglich, müsste bei Anordnung einer Massnahme und Absehen von einer Strafe wegen unverschuldeter Schuldunfähigkeit stets die gesamte Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft als Überhaft entschädigt werden. Die Kantone hätten zunächst die Kosten der strafprozessualen Inhaftierung sowie des Massnahmevollzugs zu bezahlen (…) und anschliessend Entschädigung und Genugtuung für die gesamte Untersuchungs- und Sicherheitshaft unter dem Titel der Überhaft gemäss Art. 431 Abs. 2 StPO zu leisten. Dies kann nicht die Meinung des Gesetzgebers gewesen sein, welcher sich in der Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts für eine grundsätzliche Anrechnung der Untersuchungshaft auf freiheitsentziehende Massnahmen aussprach (vgl. Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1330 Ziff. 2.10.3.1 zu Art. 439). 
Wird die Haft an bedingt ausgesprochene Freiheitsstrafen oder Geldstrafen angerechnet (BGE 141 IV 236 E. 3.3 S. 239; 135 IV 126 E. 1.3.6 S. 129; Urteil 6B_75/2009 vom 2. Juni 2009 E. 4.3 f.), ist die Anrechnung sodann ebenfalls nur eine “scheinbare”, sofern der Beschuldigte innert der Probezeit nicht erneut delinquiert, was von diesem grundsätzlich zu erwarten ist. Zudem wird bei Anrechnung der Haft an eine unbedingt ausgesprochene Freiheitsstrafe jeweils an deren Gesamtdauer angerechnet. Die Möglichkeit der bedingten Entlassung nach zwei Drittel der Strafe bleibt dabei unberücksichtigt, so dass die erstandene Haft im Ergebnis oftmals ebenfalls zu keiner effektiven Verkürzung der Strafe bzw. zu einer Kompensation der erstandenen Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft führt. Eine Anrechnung ohne effektive Verkürzung des Strafvollzugs bzw. ohne eigentliche finanzielle Kompensation ist daher jetzt schon in verschiedenen Konstellationen denkbar. Soweit die Vorinstanz rügt, eine Anrechnung von Untersuchungs- und Sicherheitshaft auf Massnahmen sei nicht umsetzbar, da diese Anrechnung bloss pro forma erfolge, kann ihr daher nicht gefolgt werden (E. 2.6, Hervorhebungen durch mich).