Keine Beweise und Aktenverweise in der Anklage!

Nach einem neuen Urteil des Bundesgerichts gehören weder die Nennung von Beweisen noch Aktenverweise in eine Anklageschrift (BGer 6B_424/2021 vom 26.01.2023):

Die Anklageschrift hat den angeklagten Sachverhalt nur zu behaupten, nicht aber zu beweisen. Demnach gehören in die Anklageschrift weder die Nennung von Beweisen noch Aktenverweise (Urteile 6B_1246/2020 vom 16. Juli 2021 E. 2.3; 6B_918/2020 vom 19. Januar 2021 E. 3.3; je mit Hinweisen) [E. 1.2.2, Hervorhebungen durch mich].  

Das sehe ich zwar auch so, aber immer, wenn ich es vor Gericht geltend mache, laufe ich auf. Ich bin daher wieder einmal den Referenzen im hier besprochenen Entscheid nachgegangen. Der erste referenzierte Entscheid ist nicht einschlägig. Der zweite enthält anstatt einer Begründung weitere Verweise, und zwar auf BGer 6B_1233/2017 vom 30.07.2018 E. 2.2 sowie auf BGer 6B_453/2017 vom 16.03.2018 E. 2.2 (nicht publ. E. aus BGE 144 IV 172). Im letzten Entscheid findet sich auch keine Begründung, aber immerhin folgende Verweise auf die Lehre: NIKLAUS SCHMID, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3. Aufl. 2017, Rn. 1269; HEIMGARTNER/NIGGLI, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 19 zu Art. 325 StPO; LANDSHUT/BOSSHARD, in: Donatsch/Hansjakob/Lieber, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 2 zu Art. 325 StPO.

Das könnte man als Stand von Lehre und Rechtsprechung verstehen. Nun gibt es halt auch andere Entscheide. In BGer 6B_913/2019 vom 07.02.2020 steht:

Die Anklagebehörde belegt den umschriebenen Sachverhalt in der Anklageschrift in rund 500 Fussnoten mit zahlreichen Verweisen auf die Untersuchungsakten. Wie das Bundesgericht in einem jüngeren Entscheid erkannt hat, verletzen Verweisungen auf die Untersuchungsakten in der Anklageschrift die Umgrenzungsfunktion des Anklagegrundsatzes nicht, zumal sich aus den jeweiligen Belegstellen lediglich ergibt, auf welche Beweise aus den Untersuchungsakten sich die Anklagebehörde für ihre Vorwürfe stützt. Mit den Aktenverweisen wird der Anklagesachverhalt mithin nicht über den eigentlichen Anklagetext hinaus erweitert (Urteil 6B_28/2018 vom 7. August 2018 E. 6.4.2). Die Referenzierung ändert indes nichts daran, dass die Anklageschrift den angeklagten Sachverhalt nur behauptet (E. 4.3, Hervorhebungen durch mich). 

Und im dort zitierten BGer 6B_28/2018 liest sich:

Wie die Vorinstanz zu Recht erwägt (…), enthalten die Fussnoten in der Anklageschrift Verweise auf die Untersuchungsakten. Aus den jeweiligen Belegstellen ergibt sich lediglich, auf welche Beweise aus den Untersuchungsakten sich die Anklagebehörde für ihre Vorwürfe stützt. Mit den Aktenverweisen wird der Anklagesachverhalt nicht über den eigentlichen Anklagetext hinaus erweitert, so dass die Umgrenzungsfunktion der Anklageschrift nicht verletzt wird. Die Anklageschrift ist auch ohne Fussnoten aus sich heraus verständlich. Inwiefern der Inhalt der Anklageschrift, ohne dass der Anmerkungsapparat verstanden worden sei, nicht soll erfasst werden können, ist nicht ersichtlich (E. 6.4.2)

Wenn ich das nun zusammenfasse scheint das Bundesgericht sagen zu wollen, dass alles, was anklagerelevant ist, im Haupttext einer Anklage enthalten sein muss und nicht in den Fussnoten stehen darf. Der Vorhalt muss sich auch ohne Fussnoten erfassen lassen. Der Verteidigung ist es aber vollkommen egal, ob der Vorhalt im Text oder in der Fussnote steht. Nicht egal ist, wenn die Staatsanwaltschaft eigentliche Rechtschriften verfasst und ihre Behauptungen wie in einer zivilprozessualen Klage mit den Beweismitteln und ihren Fundstellen belegt, mit Fussnoten oder wie auch immer. Das verletzt solange die Waffengleichheit und das Prinzip der Fairness als eine Klageantwort bzw. Verteidigungsschrift nicht gesetzlich vorgesehen ist. Richtig ist daher m.E. die Auffassung, dass die Nennung von Beweisen und Aktenverweise in einer Anklageschrift nichts zu suchen haben. So sagt es im aktuellen Entscheid ja auch das Bundesgericht. Daran wird es sich hoffentlich beim nächsten Mal erinnern.

Doch noch kurz zurück auf den aktuellen Entscheid, in dem – in etwas schwierigem Deutsch – eine Erwägung steht, die keinen Sinn macht, wenn man die Beschwerdeschrift nicht kennt:

Insofern der Beschwerdeführer weiter kritisiert, die Vorinstanz habe einen angeklagten Straftatbestand (Anstaltentreffen zur Einfuhr von Betäubungsmitteln) nicht überprüft, sondern stattdessen den Fokus auf einen anderen Tatbestand (Anstaltentreffen zum Erwerb und zur Veräusserung von Betäubungsmitteln) gerichtet (…), kann ihm nicht zugestimmt werden. Die Vorinstanz war an den in der Anklage umschriebenen Sachverhalt, nicht aber an die darin vorgenommene rechtliche Würdigung gebunden (Art. 350 Abs. 1 StPO; vgl. oben E. 1.2.2). Dass sie im Rahmen der Beweiswürdigung “den Fokus” auf einen anderen Straftatbestand als den angeklagten gerichtet hat (), ist damit nicht zu beanstanden (E. 1.5).