Obergericht AG: Punitivität vor Recht
Manchmal fehlen mir einfach die Worte. Ich beschränke mich daher darauf, aus der Erwägung eines aktuellen Bundesgerichtsentscheids zu zitieren (BGer 6B_1263/2020 vom 05.10.2022):
Obschon die Vorinstanz den Beschwerdeführer in der Folge im Sinne dieser Erwägung der einfachen qualifizierten ungetreuen Geschäftsbesorgung schuldig spricht, legt sie, entsprechend ihrer Auffassung, wonach ein Schuldspruch wegen mehrfacher qualifizierter ungetreuer Geschäftsbesorgung hätte erfolgen müssen, bei der Strafzumessung jedoch für die “konkret schwerste ungetreue Geschäftsbesorgung mit Bereicherungsabsicht” eine Einsatzstrafe fest und erhöht diese in Anwendung des Asperationsprinzips aufgrund der “weiteren qualifizierten ungetreuen Geschäftsbesorgungen” (vgl. angefochtenes Urteil E. 6.4.1 ff. S. 17 ff.; Vorgehen bestätigt in der Vernehmlassung der Vorinstanz vom 25. August 2022 zu Ziff. 2.5 S. 5). Dieses Vorgehen ist mit dem in Art. 49 Abs. 1 StGB verankerten Asperationsprinzip nicht vereinbar. Art. 49 Abs. 1 StGB legt unter der Marginale “Konkurrenzen” die Rechtsfolgen fest, die einen Täter treffen, der denselben Straftatbestand mehrfach oder mehrere verschiedene Straftatbestände verletzt hat. Wird der Beschwerdeführer – wie vorliegend geschehen – wegen einfacher qualifizierter ungetreuer Geschäftsbesorgung schuldig gesprochen, kann bei der Strafzumessung keine Gesamtstrafenbildung infolge mehrfacher qualifizierter ungetreuer Geschäftsbesorgung erfolgen (E. 6.3.1, Hervorhebungen durch mich).
Wieso es wohl zwei Jahre ab dem Urteil des kassierten Urteils brauchte?
Es dauerte so lange, da die Strafkammer des Bundesgerichts massivst überlastet ist.
Woran liegt das? Zu wenig Personal? Oder an der Qualität der Vorinstanzen? Oder an den bösen Anwälten? Der vorliegende Fall gibt jedenfalls eine Antwort.
Welche Antwort gibt dieser Fall Ihrer Meinung nach?
@Gerichtsschreiber: Die Fälle sind halt leider nicht so eindeutig, wie sie hier immer dargestellt werden. Vorliegend hat die Vorinstanz fälschlicherweise eine Tateinheit angenommen. Das wurde dann vom Staat nicht angefochten, da es ja effektiv einen Schuldspruch für den gesamten Deliktsbetrag gab. Es stellte sich die Frage, wie in solchen Konstellationen im Berufungsverfahren damit umgegangen werden muss. Offenbar geht es nicht, trotzdem nach Art. 49 Abs. 2 StGB zu asperieren, da keine Tatmehrheit mehr möglich. Aber was ist die Alternative? Den Schuldspruch abändern auf mehrfache Tatbegehung? (geht nicht, Art. 391 Abs. 2 StPO); Einfach ebenfalls für die Sanktionsbemessung eine Tateinheit annehmen und die Sanktion nach der gesamten Deliktssumme aussprechen? (gds. gangbar, wäre allenfalls ein Rechtsfehler); Nur den höchsten Betrag für die Tatschwere nehmen? (wäre zutiefst ungerecht, da der Mensch ja offensichtlich betreffend den gesamten Betrag schuldig ist).
Und was das Bundesgericht anbelangt: x-hunderttausend Strafverfahren schweizweit pro Jahr, jedes kann bis zum Bundesgericht weitergezogen werden. Da muss niemand überrascht sein, dass es so weit gekommen ist und strafbares Handeln dann halt einfach jahrelang ohne Konsequenzen bleibt. Die Diskussion ist bekannt. Politischer Änderungswille besteht nicht.
Recht so, ich hoffe noch viel mehr Bürger ziehen Entscheide vors BGE, damit man endlich mal das Strafrecht entrümpelt oder irgendwann den Bürger offenlegen muss die Polizeitstaat/Verbotspolitik kostet 10x mehr…..
Ein weiterer punkt: die stpo ist heute bundesrecht, früher war der strafprozess kantonal geregelt. Damit hat das bundesgericht heute weitere kognition und prozessuale fragen können heute erfolgreicher ans bundesgericht getragen werden. Wo mehr erfolg winkt, wird mehr prozessiert. Da kann man den “bösen” anwälten nicht mal böse sein.
Es scheint aber doch relativ einfach zu sein: Die Staatsanwaltschaft hat nicht angefochten, es gilt das Verbot der reformatio in peius, man darf schlicht nichts draufbeigen, schon gar nicht weitere Straftaten, sondern höchstens wegnehmen, was ist so schwierig daran? Akzeptiert das das Berufungsgericht nicht, liegt’s eben eher nicht an der Rechtsfrage, sondern am Bauchgefühl, wonach man den Beschuldigten für schuldiger hält und unter der Strafzumessung Tatbestandsmerkmale oder ganze Tatbestände hinzufügt, kommt immer wieder vor (auch umgekehrt; bei unsicherer Beweislage gibt’s einen Bonus bei der Strafe – statt dass man freispricht).
Von den x-hunderttausend Strafverfahren werden um die 90% mit Strafbefehl erledigt (kurzer Prozess, fehleranfällig). Unsere Justiz ist eine Schönwetterjustiz; kämen tatsächlich all diese Fälle vor Gericht, würde das System zusammenbrechen (übrigens bleiben auch rund 80% der zivilen Fälle beim Friedensrichter hängen, jedenfalls jene, die dort vorbei müssen).
Und das Bundesgericht hat bekanntlich nur die einfachere der beiden Aufgaben der Justiz zu lösen: die Rechtsfindung. Die viel schwierigere Wahrheitsfindung bleibt aussen vor. (Bei Willkür geht’s ja nur um offensichtlich Unhaltbares, was an sich gar nicht vorkommen sollte, oder?).
Trotzdem: Die Justiz muss mit ausreichend Personal und Mitteln ausgestattet werden, auch das Bundesgericht. Wächst die Schweiz in 20 Jahren um 15%, scheint nur logisch zu sein, dass die Gerichte und Staatsanwaltschaften entsprechend mehr Personal und Mittel erhalten.
@ da: Das Berufungsgericht hat nichts auf die Beige gelegt. Es hat wegen derselben Deliktssumme wegen einfacher und nicht wegen mehrfacher ungetreuer Geschäftsbesorgung schuldig gesprochen. Bei der Strafzumessung wurde zugunsten des Täters aber nicht alles gesamthaft beurteilt, sondern aufgeteilt. Der Täter ist beim Vorgehen des Berufungsgerichts besser gefahren.
“Irritierend (für das BGer) wirkt vorliegend zwar, dass die Vorinstanz in ihrem Entscheid verschiedentlich über die Anklage hinaus geht, indem sie der Beschwerdeführerin beispielsweise vorwirft, sie sei “die Finanzministerin des Drogenhandelsrings” um D.H. und D.L. gewesen, bei der alle Fäden zusammengelaufen seien (angefochtenes Urteil S. 101; Beschwerde Ziff. 29 S. 20 und Ziff. 408 S. 134 f.), dies obschon das gegen die Beschwerdeführerin eröffnete Strafverfahren wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz am 20. Februar 2013 eingestellt wurde (vgl. zu weiteren nicht angeklagten Vorwürfen hinten E. 17.7, E. 18.2, E. 19.5 und E. 20). Die Vorinstanz unterstellt der Beschwerdeführerin zudem wiederholt, sie habe Unterlagen bezüglich der mittlerweile rechtskräftig verurteilten D.H. und D.L. beiseite geschafft, welche Rückschlüsse auf ihren eigenen Tatbeitrag ermöglicht hätten (vgl. angefochtenes Urteil S. 31, 55 f., 61, 67 f. und 113), obschon die
Beschwerdeführerin von diesem Vorwurf (vgl. Anklage Ziff. V betreffend Unterdrückung von Urkunden) erstinstanzlich u.a. mangels Beweisen rechtskräftig freigesprochen wurde (vgl. Urteil des Bezirksgerichts E. 8
S. 42 f.; Beschwerde S. 22 f.).”
Dies aus einem anderen Urteil. Es gab noch mehrere weitere solche unhaltbaren Unterstellungen. Im Urteil der VI wurden sämtliche entlastenden Beweise systematisch unterschlagen. – Da fehlen nicht nur die Worte, es stellen sich Fragen: Ab wann wird Willkür zur Rechtsbeugung und damit zum Amstmissbrauch, welcher von Amtes wegen zu verfolgen wäre? Sind solche Richter haltbar, die mehr als Unhaltbares unterstellen?