“Recht auf Vergessen” c. Medienfreiheit

Ein Journalist ersuchte das Untersuchungsamt SG um Herausgabe eines rechtskräftigen Urteils des Kreisgerichts SG, soweit es den Verurteilten A, betreffe. Der Journalist brachte vor, er recherchiere in einem Betrugsfall, den die Staatsanwaltschaft GE untersuche. Am Genfer Strafverfahren seien ca. 60 Pensionskassen als Privatkläger beteiligt. A. sei einer der Beschuldigten. Anhand des Urteils soll überprüft werden, ob A. in St. Gallen wegen vergleichbarer Straftaten, d.h. im Zusammenhang mit Immobilien und Hypotheken, verurteilt worden sei.

Das Gesuch wurde gutgeheissen unter Offenlegung der Identität von A., nicht dagegen der Mitbeteiligten. A. wehrte sich erfolglos bis vor Bundesgericht (BGer 1B_510/2017 vom 11.07.2018). Er machte ein “Recht auf Vergessen” geltend.

Das Bundesgericht anerkennt zwar einen Eingriff in das Recht von A. auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 13 Abs. 2 BV), erachtet den Eingriff aber als verhältnismässig und beruft sich auch auf die Medienfreiheit (Art. 17 BV):

Der Beschwerdeführer beruft sich auf sein “Recht auf Vergessen”. Er habe ein überwiegendes Interesse daran, dass die Sachverhalte, die zum kreisgerichtlichen Urteil geführt hätten und weit zurücklägen, nicht wieder “aufgekocht” würden. Dem kann nicht gefolgt werden. Der Beschwerdegegner beschäftigt sich nicht grundlos mit der längst abgeschlossenen Vergangenheit des Beschwerdeführers. Der Beschwerdegegner recherchiert vielmehr im Zusammenhang mit dem derzeit im Kanton Genf geführten Strafverfahren und damit aus aktuellem Anlass. Er verlangt die Herausgabe des kreisgerichtlichen Urteils, welches vor ca. 4 ½ Jahren und somit noch nicht langer Zeit ergangen ist. Der Beschwerdeführer hat kein Recht auf Vergessen dieses Urteils, dies insbesondere mit Blick auf den Grundsatz der Justizöffentlichkeit gemäss Art. 30 Abs. 3 BV. Danach sind, unter Vorbehalt gesetzlicher Ausnahmen, Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung öffentlich (vgl. ebenso Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 14 Abs. 1 UNO-Pakt II). Der Grundsatz der Justizöffentlichkeit verhindert eine geheime Kabinettsjustiz und unterstellt die Justiz der demokratischen Kontrolle durch Öffentlichkeit und Medien. Gemäss Art. 16 Abs. 3 BV hat jede Person das Recht, Informationen aus allgemein zugänglichen Quellen zu beschaffen. Aufgrund von Art. 30 Abs. 3 BV stellt die öffentliche Urteilsverkündung eine solche Quelle dar (BGE 139 I 129 E. 3.3 S. 133 f.; 137 I 16 E. 2.2 S. 18 f.; je mit Hinweisen). Auf den Grundsatz der öffentlichen Urteilsverkündung bzw. Bekanntgabe des Urteils können sich namentlich Medienschaffende auch im Nachhinein, also nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens, berufen (BGE 139 I 129; Urteil 1C_123/2016 vom 21. Juni 2016, publ. in ZBl 117/2016 S. 601 ff., E. 3.6; GEROLD STEINMANN, in: Die schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl. 2014, N. 66 zu Art. 30 BV). Das Interesse von Verfahrensbeteiligten an der Geheimhaltung des Urteils tritt insoweit zurück. Dies trifft auch hier für den Beschwerdeführer zu. Unter den gegebenen Umständen nicht zu beanstanden ist es, wenn die Vorinstanz die Herausgabe des kreisgerichtlichen Urteils in – was den Beschwerdeführer betrifft – nicht anonymisierter Form zugelassen hat. Der Beschwerdegegner recherchiert im Zusammenhang mit dem Genfer Strafverfahren, in dem es offenbar um einen ausserordentlich hohen Deliktsbetrag geht und der Beschwerdeführer – wie er der Sache nach einräumt – Beschuldigter ist. Der Beschwerdegegner will wissen, ob der Beschwerdeführer im Kanton St. Gallen bereits in ähnliche Vorgänge verwickelt war. Um dieses mit Blick auf die Medienfreiheit nach Art. 17 BV berechtigte Informationsinteresse zu befriedigen, braucht der Beschwerdegegner Einsicht in das kreisgerichtliche Urteil in – was den Beschwerdeführer betrifft – nicht anonymisierter Form. Das kreisgerichtliche Urteil ist umfangreich und betrifft mehrere Beschuldigte. Erhielte es der Beschwerdegegner in vollständig anonymisierter Form, wäre es für ihn unbrauchbar, da er dann nicht wüsste, was dem Beschwerdeführer im kreisgerichtlichen Urteil zur Last gelegt wird. Die Herausgabe des Urteils unter Namensnennung des Beschwerdeführers lässt sich umso eher rechtfertigen, als dieser deswegen dem Beschwerdegegner nicht schutzlos ausgeliefert ist. Letzterer hat bei einem Zeitungsartikel – nebst dem strengen Berufskodex für Journalisten – die Persönlichkeit des Beschwerdeführers und in Bezug auf das hängige Genfer Strafverfahren die Unschuldsvermutung zu achten (Art. 32 Abs. 2 BV; Urteil 1B_68/2012 vom 3. Juli 2012, publ. in EuGRZ 2012 S. 655 ff., E. 4.4.2). Sollte der Beschwerdegegner dies nicht tun, könnte sich der Beschwerdeführer mit den ihm zur Verfügung stehenden zivil- und strafrechtlichen Mitteln dagegen wehren (Art. 28 ff. ZGB, Art. 173 ff. StGB).
Würdigt man dies gesamthaft, stellt die Herausgabe des kreisgerichtlichen Urteils keinen unverhältnismässigen Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Privatsphäre dar (E. 3.4).
Notwendig? Geeignet? Zumutbar? Nichts davon. A. hätte sich besser nicht beschwert. Selbst wenn er gewonnen hätte, wäre man auf ihn aufmerksam geworden.