Verjährung und Abwesenheitsverfahren

Auch heute publiziert das Bundesgericht einen neuen Grundsatzentscheid (BGE 6B_389/2019 vom 28.10.2019, Publikation in der AS vorgesehen). Der Entscheid enthält mehrere spannende Erwägungen. Publikationswürdig dürfte aber der verjöhrungsrechtliche Teil sein.

Zu prüfen war, ob die seit einem Abwesenheitsurteil bis zur Wiederaufnahme des Verfahrens verstrichene Zeit an die Verfolgungsverjährung anzurechnen ist und ob ein Abwesenheitsurteil als erstinstanzliches Urteil im Sinne des neuen Verjährungsrecht zu würdigen ist.  

Nach geltendem Recht bleibt das Abwesenheitsurteil bei bewilligtem Neubeurteilungsverfahren nur dann bestehen, wenn die verurteilte Person der Hauptverhandlung erneut unentschuldigt fernbleibt (Art. 369 Abs. 4 StPO).   Damit kann

ein Abwesenheitsurteil im Sinne von Art. 366 ff. StPO nur unter der resolutiven Bedingung, dass zu einem späteren Zeitpunkt kein Gesuch um neue Beurteilung eingereicht und das Abwesenheitsurteil durch ein neues Urteil ersetzt wird, als erstinstanzliches Urteil gemäss Art. 97 Abs. 3 StGB verstanden werden (MATTHIAS ZURBRÜGG, in: Basler Kommentar, Strafrecht II, 4. Aufl. 2019, N 63 zu Art. 97; DENYS, a.a.O., S. 58). Soweit mithin das Gesuch um Neubeurteilung gutgeheissen und ein neues Urteil gefällt wird, fällt das Abwesenheitsurteil dahin und gilt verjährungsrechtlich nicht mehr als erstinstanzliches Urteil. Wenn das frühere Abwesenheitsurteil dahinfällt, das Verfahren sich mithin so darstellt, als wäre jenes nie ergangen, muss die zwischen den beiden Urteilen verstrichene Zeit bei der Verfolgungsverjährung berücksichtigt werden. In der Lehre wird denn auch darauf hingewiesen, dass die Verfolgungsverjährung bei neu aufgenommenen Verfahren wieder zu laufen beginnt (SCHMID/JOSITSCH, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 3. Aufl., 2017 [Handbuch], N 1407; anders MAURER, a.a.O., N 4 zu Art. 370 [Berücksichtigung bei der Vollstreckungsverjährung]). Das Abwesenheitsurteil ist nur dann ein erstinstanzliches Urteil im Sinne von Art. 97 Abs. 3 StGB (aArt. 70 Abs. 3 StGB), wenn es in Rechtskraft erwachsen ist (GILBERT KOLLY, in: Commentaire Romand, Code pénal I, 2009, N 64 f. zu Art. 97; RIEDO/KUNZ, Jetlag oder Grundprobleme des neuen Verjährungsrechts, in: AJP 2004 S. 907; vgl. auch Botschaft, a.a.O., S. 2134 [e contrario]). Es verhält sich insofern gleich wie beim Strafbefehl, der nach der Rechtsprechung, soweit gegen ihn Einsprache erhoben wird, nicht als erstinstanzliches Urteil im Sinne von Art. 97 Abs. 3 StGB gilt (BGE 142 IV 11 E. 1.2.2; vgl. auch RIEDO/KUNZ, a.a.O.). Die gegen die unter der Geltung des früheren Verjährungsrechts in der Lehre vertretene Anrechnungstheorie vorgebrachten Bedenken, wonach die verurteilte Person die Verjährung rechtsmissbräuchlich – etwa durch Flucht – herbeiführen könnte und dass sich ein derartiges Verhalten nicht auszahlen dürfe, ist unter der Geltung der Schweizerischen Strafprozessordnung nicht mehr begründet, zumal das Gericht gemäss Art. 368 Abs. 3 StPO das Gesuch um Neubeurteilung nur gutheisst, wenn die ordnungsgemäss vorgeladene verurteilte Person der Hauptverhandlung nicht unentschuldigt ferngeblieben ist (3.4.5, Hervorhebungen durch mich).  

Das letzte Mal, als ich mich auf die Publikation von Denys berufen habe, blieb ich erfolglos.