Widerrechtliche Umgehung der notwendigen Verteidigung durch getrennte Strafbefehlsverfahren

Wenn mehrere Strafverfahren gegen dieselbe Person zu mehreren Strafbefehlen führen, könnte darin eine Verletzung von Art. 130 StPO (notwendige Verteidigung) erblickt werden. Ein solches Beispiel geht aus einem aktuellen bernischen Fall hervor, den das Bundesgericht nun aber kassiert (BGer 6B_213/2025 vom 19.06.2025):

Nach dem Gesagten waren im Zeitpunkt des Erlasses des ersten Strafbefehls vom 11. Juli 2023 die Voraussetzungen für eine notwendige Verteidigung gemäss Art. 130 lit. b und c StPO gegeben. Wie erwähnt wurde der Beschwerdeführer mit den drei in Frage stehenden Strafbefehlen insgesamt zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verurteilt, ohne dass ihm eine wirksame Verteidigung möglich war. Damit wurde sein Recht auf ein faires Verfahren verletzt (vgl. Urteil 6B_941/2015 vom 2. März 2016 E. 4.3). Um zu gewährleisten, dass der Beschwerdeführer an dem gegen ihn geführten Verfahren als teilhabendes Subjekt effektiv partizipieren kann (vgl. Urteil 6B_719/2011 vom 12. November 2012 E. 3.4; HANS VEST, in: Basler Kommentar, Strafprozessrecht, 3. Aufl. 2023, N. 3 zu Art. 107 StPO), wäre eine notwendige Verteidigung sicherzustellen gewesen. Daraus ergibt sich zugleich, dass eine rechtsgültige Zustellung der in Frage stehenden Strafbefehle erst mit der Zustellung an die Verteidigung des Beschwerdeführers erfolgte (Art. 87 Abs. 3 StPO). Demnach ergingen die Einsprachen des Beschwerdeführers innert zehn Tagen seit rechtsgültiger Zustellung und damit rechtzeitig (E. 1.4.2).  

Der Beschuldigte hatte offenbar für ein parallel laufendes Verfahren einen amtlichen Verteidiger. Die neuen Strafbefehle (Einheit des Verfahrens?) wurden aber nicht seinem amtlichen Verteidiger, sondern ihm selbst zugestellt. Der Verteidiger hat Einsprache erst erheben können und auch erhoben, nachdem er davon überhaupt Kenntnis erhalten hat. Gemäss Bundesgericht erwiesen sich diese „verspäteten“ Einsprachen nun aber nicht als ungültig.

Wie leider immer öfter ist das Urteil nicht sehr leserfreundlich begründet. Ich verstehe beispielsweise nicht, wieso man vor der Rechtsanwendung nicht den massgeblichen Sachverhalt festhält. Das vorliegende Urteil hat aber noch weitere Mängel. Das Haftentlassungsgesuch wurde offenbar nicht behandelt. Dem Urteil lässt sich bloss aus dem Sachverhalt entnehmen, dass das Bundesgericht dem Beschwerdeführer in einer Verfügung (also durch den Instruktionsrichter) mitgeteilt hatte, eine Bewilligung des Gesuches um vorsorgliche Haftentlassung komme nicht in Betracht.