Von den Teilnahmerechten und der wirksamen Verteidigung

“Die Parteien haben das Recht, bei Beweiserhebungen durch die Staatsanwaltschaft und die Gerichte anwesend zu sein und einvernommenen Personen Fragen zu stellen” (Art. 147 Abs. 1 StPO). Nach einem neuen Urteil des Bundesgerichts ist das Fragerecht aber nicht verletzt, wenn es erst bei einer späteren Einvernahme ausgeübt werden kann. Auch nicht problematisch war, dass der Teilnahmeberechtigte die einvernommene Person gar nicht verstand. Diese und andere doch eher neue und überraschende Erwägungen finden sich in einem heute publizierten Entscheid des Bundesgerichts (BGer 6B_1079/2022 vom 08.02.2023).

Zum Fragerecht:

Eine Verletzung von Art. 147 Abs. 1 und 4 StPO liegt nicht vor, da der Beschwerdeführer mit seinem Verteidiger an den Einvernahmen anwesend war und er den einvernommenen Personen zu einem späteren Zeitpunkt Fragen stellen konnte, auch wenn eine zeitnahe Einräumung dieses Fragerechts im Rahmen einer zusätzlichen Einvernahme bereits im Untersuchungsverfahren vorzuziehen gewesen wäre (E. 2.3.3).

Im vorliegenden Fall war das Fragerecht, das erst später gewährt wurde, durch die mangelnde Übersetzung erschwert. Sein Verteidiger war ja anwesend und verstand die Aussagen. Zudem konnte der Beschwerdeführer ja die Stimme hören und die einvernommene Person beobachten:

Das in Art. 147 Abs. 1 StPO verankerte Anwesenheitsrecht der beschuldigten Person bei Einvernahmen von Zeugen und Auskunftspersonen dient der Transparenz. Es ermöglicht den Parteien, das Zustandekommen von belastenden Aussagen und deren Protokollierung nachzuvollziehen. Dieses Recht konnte und musste der Beschwerdeführer in Bezug auf die Protokollierung mangels hinreichender Deutschkenntnisse unabhängig von der Anwesenheit eines Dolmetschers durch seinen ebenfalls anwesenden Verteidiger wahrnehmen. Auch der Beschwerdeführer selber konnte das Aussageverhalten der einvernommenen Personen (Gestik, allfälliges Zögern etc.) jedoch wahrnehmen, d.h. deren Stimme hören und diese bei der Aussage beobachten, was in der Lehre als Voraussetzung für die Wahrnehmung des Teilnahmerechts verstanden wird (vgl. WOLFGANG WOHLERS, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO], Donatsch/Summers/Lieber/Wohlers [Hrsg.], 3. Aufl. 2020, N. 15 zu Art. 147 StPO) [E. 2.3.1, Hervorhebungen durch mich].  

Gerügt wurde auch die ungenügende Verteidigung. Dazu das Bundesgericht:

Die vorinstanzlichen Erwägungen geben entgegen der Kritik des Beschwerdeführers zu keinen Beanstandungen Anlass. Der Beschwerdeführer leitet die ungenügende Verteidigung vor seinen Einvernahmen vom 13. und 25. April 2018 sowie derjenigen des Beschwerdegegners 2 vom 18. April 2018 einzig aus der Dauer der Vorgespräche von zwölf bzw. fünf Minuten ab. Weshalb die Instruktion durch den früheren Verteidiger konkret ungenügend gewesen sei soll, legt er jedoch auch vor Bundesgericht nicht dar. Zur Frage, wie Rechtsanwalt E. mit ihm die Einvernahmen vom 13. und 25. April 2018 vorbesprach, äussert er sich mit keinem Wort. Der nunmehr durch einen neuen Anwalt vertretene Beschwerdeführer behauptet auch nicht, er hätte bei einer anderen oder längeren Vorbesprechung am 13. und 25. April 2018 ein anderes Aussageverhalten an den Tag gelegt. Dass der Verteidiger zu einer anderen Strategie als derjenigen der Aussageverweigerung rät, begründet nach der Rechtsprechung keine Pflichtverletzung (Urteil 6B_499/2017 vom 6. November 2017 E. 2.3.1). Ebenso wenig muss die Verteidigung mit der beschuldigten Person zwingend sämtliche voraussichtlich Gegenstand der bevorstehenden Einvernahme bildenden Fragen vorbesprechen. Die Vorinstanz geht daher zu Recht von der Verwertbarkeit der Aussagen vom 13., 18. und 25. April 2018 aus (E. 1.4, Hervorhebungen durch mich).  

Bei wirksamer Verteidigung hätte der Beschuldigte geschwiegen. Aber so viel Wirksamkeit wollen wir dann doch nicht. Wo kämen wir denn da hin?