Japan v. Schweiz (Schuld- gegen Unschuldsvermutung)

Die NZZ berichtet heute über die Schwächen der Japanischen Strafjustiz (vgl. dazu den Vergleich zwischen Mexiko und der Schweiz).

Der Bericht äussert sich zunächst zur verhältnismässig tiefen Kriminalität in Japan. Entsprechend gibt es nur wenige Strafgefangene:

Von 100 000 Einwohnern leben in Japan 46 hinter Gittern, im Nachbarland China sind es 121 und in der Schweiz noch 82. Doch diese positiven Zahlen überdecken eine dunkle Seite der japanischen Justiz. Wer angeklagt wird, der wird mit fast hundertprozentiger Sicherheit verurteilt. Freisprüche sind äusserst selten. Auffallend ist, dass die Anklage — und damit die Verurteilung ? in neun von zehn Fällen auf einem Geständnis basiert.

Das ist in der Schweiz nicht anders. Anders ist aber vielleicht, wie es zu diesen Geständnissen in Japan kommen soll [in den Klammern ein Vergleich mit der Schweiz]:

Die japanische Polizei kann Verdächtige bis zu 23 Tage festhalten, bis sie Anklage erheben muss [eine Anklage nach 23 Tagen wäre in der Schweiz rekordverdächtig schnell]. Selbst ein richterlicher Haftbefehl ist erst 72 Stunden [CH: 96 Stunden] nach der Verhaftung nötig. Dieses System, «daiyo kangoku» genannt, werde regelmässig dazu missbraucht, um «Geständnisse» zu erhalten [CH: dito], schreibt Amnesty International. Dabei griffen die Strafverfolgungsbehörden zu Folter [CH: wenn schon, dann “nur” psychische Folter] und Missbrauch, wie Schlägen [CH: erst einmal erlebt; es war aber Notwehr], Einschüchterung [CH: “wenn Sie nicht gestehen, müssen wir weiterhin Kollusionsgefahr annehmen. Sie wissen, was das für Ihren Job und die Familie bedeutet”], Schlafentzug [CH: noch nie erlebt] und mehrstündigen Verhören ohne Pausen [CH: nicht unüblich], klagt die Menschenrechtsorganisation an.

Das System in Japan ist anfällig für Fehlurteile:

Dass etwas an Japans Justizsystem falsch ist, zeigt sich darin, dass es immer wieder zu gravierenden Fehlurteilen kommt [CH: der demokratisch gewählte Richter ist praktisch unfehlbar].

Fundamentale Verfahrensrechte werden missachtet:

Die Verhöre beginnen in der Regel, lange bevor ein Anwalt zugegen ist [CH: dito]. Und die Befragung geht auch weiter, wenn der Verdächtige schweigen will [CH: dito]. Die Polizei entscheidet, wann sie dem Anwalt einen kurzen Besuchstermin beim Klienten erlauben will [CH dito, je nach Kanton unterschiedlich]. «Bis der Anwalt seinen Klienten gesehen hat, hat dieser gestanden» [CH: dito], sagt Lawrence Repeta, ein amerikanischer Jurist, der seit fast 40 Jahren in Japan lehrt.

[…]

Bei den Verhören sind nicht nur keine Anwälte zugegen [CH: je nach Schwere des Delikts sind die Anwälte in der Regel zugegen]. Die Gespräche werden meist auch nicht aufgezeichnet [CH: dito]. Zieht ein Angeklagter vor Gericht sein «Geständnis» zurück, steht seine Aussage gegen jene der Polizisten, die ihn verhört haben. Was während des Verhörs wirklich gesagt wurde, kann nicht nachgeprüft werden. Die einzigen Belege sind die von der Polizei verfassten Protokolle [CH: dito].

Deutliche Unterschiede gibt es bei den Richterkarrieren:

Ein Grund dafür, dass im japanischen Justizsystem die Staatsanwaltschaft meist gewinnt, liegt in den Augen von Kritikern auch darin, wie Richterkarrieren verlaufen. Diese sind Beamte und werden wie andere Beamte in Japan alle paar Jahre versetzt. Wenn ein junger Richter sich zu häufig für den Angeklagten entscheidet, werden viele seiner Urteile auf höherer Ebene kassiert [In CH werden die Urteile der Richter m.W. nicht systematisch ausgewertet. Hier reicht die demokratische Kontrolle].

In Japan wird die Unschuldsvermutung mit Füssen getreten:

Parallel dazu findet eine öffentliche Vorverurteilung statt. Die japanischen Zeitungen und Nachrichtensendungen zeigen täglich Verdächtige, die von der Polizei abgeführt werden. Meist wird der volle Name genannt. In den sogenannten Presseklubs stecken Staatsanwälte und Polizei den akkreditierten Journalisten Informationen, die häufig den Anwälten des Verdächtigen vorenthalten werden [CH: auch schon erlebt]. Da diese Journalisten ihren privilegierten Zugang zu Informationen nicht aufs Spiel setzen wollen, hinterfragen sie die Aktivitäten der Strafverfolgungsbehörden kaum [CH: für viele Journalisten dito]. Dass so die Unschuldsvermutung mit Füssen getreten wird [CH: es gibt sie gar nicht], mag im Lichte der Verurteilungsrate von über 99 Prozent [CH: insgesamt und inkl. Strafbefehlsverfahren deutlich darüber] als natürlich erscheinen.

Gut, dass wenigstens NZZ bzw. NZZaS kritisch über die Strafjustiz berichtet (wenigstens über die ausländische).