Anwesenheitspflicht des Staatsanwalts?

Ein Beschwerdeführer hat unter Hinweis auf die Rechtsprechung des EGMR (Ozerov gegen Russland vom 18. Mai 2010, Nr. 64962/01; Krivoshapkin gegen Russland vom 28. Januar 2011, Nr. 42224/02 und Karelin gegen Russland vom 20. September 2016, Nr. 926/08) vor Bundesgericht geltend gemacht, dass bei Abwesenheit der Staatsanwaltschaft berechtigte Zweifel an der Unparteilichkeit des Gerichts bestünden. Das Gericht übernehme bei Nichterscheinen der Staatsanwaltschaft die Rolle der Anklage.

Das Bundesgericht weist die Beschwerde  zwar ab (BGer 1B_17/2018 vom 21.03.2018, Fünferbesetzung). Endgültig legt es sich m.E. aber nicht auf eine allgemeine Regel fest, sondern will die Frage einzelallweise prüfen:

4.3. In den erwähnten Urteilen beanstandete der EGMR, dass das Strafgericht kein kontradiktorisches Verfahren durchgeführt, sondern in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft deren Funktionen übernommen habe. Dabei schenkte der Gerichtshof dem Umstand, dass das Strafgericht aus eigenem Antrieb Beweismittel erhob und insbesondere Zeugen befragte, besonderes Augenmerk (Urteile  Ozerov, Ziff. 53;  Krivoshapkin, Ziff. 44). Im Urteil  Karelin hielt er im Sinne einer allgemeinen Regel fest, die Anwesenheit der Staatsanwaltschaft sei angebracht, wenn eine mündliche Verhandlung opportun erscheine und der Beschuldigte auf seine eigene Anwesenheit nicht wirksam verzichtet habe. Im Berufungsverfahren könne es sich möglicherweise anders verhalten, wenn das erstinstanzliche Verfahren in dieser Hinsicht korrekt durchgeführt worden sei und der Beschuldigte nur Rechtsrügen vorbringe (zum Ganzen: Urteil  Karelin, Ziff. 76 und 81).

4.4. Aus dieser Rechtsprechung geht hervor, dass die Frage, ob das Sachgericht als parteilich erscheint, weil es in Abwesenheit der Staatsanwaltschaft deren Rolle übernimmt, von den Umständen des Einzelfalls abhängt. Mit anderen Worten kann die Frage der Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK erst anhand des konkreten Vorgehens des Gerichts anlässlich der Verhandlung schlüssig beantwortet werden. Ein Anschein von Befangenheit ist aus diesen Gründen im vorliegenden Fall jedenfalls im jetzigen Zeitpunkt nicht gegeben. Hinzu kommt, dass die Oberstaatsanwaltschaft zwar auf ihre Anwesenheit verzichtet hat, es jedoch der Verfahrensleitung des Berufungsgerichts nach Art. 337 Abs. 4 StPO zusteht, sie dennoch zur persönlichen Vertretung der Anklage zu verpflichten, wenn sie dies für nötig erachtet. Die Berufungsverhandlung hat offenbar noch nicht stattgefunden, weshalb eine Vorladung im Sinne der genannten Bestimmung nach wie vor möglich wäre. Auch deshalb ist die Kritik des Beschwerdeführers unbegründet.

 Ob das der EGMR auch so sieht, wage ich zu bezweifeln.