Obergerichtlich gebilligter Klientenverrat

Das Verhalten eines Pflichtverteidigers, das einem aktuellen Bundesgerichtsentscheid (BGer 6B_76/2020 vom 10.03.2020) zu entnehmen ist, ist an Inkompetenz kaum zu überbieten. Ebenso unglaublich ist, dass die Vorinstanz (OGer ZH, 1. Strafkammer) das Vorgehen des Verteidigers auch noch gebilligt hat, die Rechnung aber wohl ohne den Beschuldigten gemacht hat, der als Laie das Bundesgericht angerufen hat und auf der ganzen Linie obsiegte.

Der amtliche Verteidiger hatte drei Tage vor der Berufungsverhandlung die Berufung zurückgezogen, was er der Vorinstanz offenbar als Bewerbungsschreiben für weitere Mandate als Strafverteidiger verkaufen wollte:

Der amtliche Verteidiger zog die Berufung des Beschwerdeführers am 18. November 2019, mithin drei Tage vor der Berufungsverhandlung zurück. Gleichzeitig empfahl er sich gegenüber der Vorinstanz als Strafverteidiger für künftige Fälle. Dem Rückzug legte er ein an den Beschwerdeführer gerichtetes Schreiben bei (“Rückzug der Berufung”), in welchem er – insbesondere unter Bezugnahme auf den zwischenzeitlich erstellten Therapiebericht – im Detail darlegte, weshalb er eine Berufung in Bezug auf die Massnahme wie auch auf die (nicht angefochtenen) Schuldsprüche als “aussichtslos” bzw. “chancenlos” erachte. Einzig im Strafpunkt räumte der Verteidiger der Berufung gewisse Chancen ein. Die Freiheitsstrafe von 32 Monaten bezeichnete er als “streng”, zumal es sich um “Hands-Off-Taten” bzw. “Cam-Sex”-Handlungen mit einem minderjährigen jungen Mann handle. Die Erfolgsaussichten seien allerdings derart marginal, “dass sich die Bemühung des Obergerichts für einen weiteren Prozesstag […] nicht rechtfertigen würde” (…). Soweit aus den Akten ersichtlich, liess der Verteidiger den Therapiebericht seinem Klienten erst nach dem erfolgten Berufungsrückzug zukommen. Die letzte Besprechung fand am 30. Oktober 2019 statt (…) [E. 3.2].

Das Bundesgericht fasste das Verhalten wie folgt zusammen:

Unabhängig von der Frage, ob die Vorinstanz nach erfolgter Abschreibung des Berufungsverfahrens noch für das Gesuch über den Wechsel der amtlichen Verteidigung überhaupt zuständig war, ruft das Vorgehen des Verteidigers erhebliche Bedenken hervor. Denn der Verteidiger legte gegenüber der Vorinstanz nicht nur die Verteidigungsstrategie offen, sondern äusserte klare Zweifel an den Erfolgsaussichten der Berufung. Beides entsprach offensichtlich nicht den Interessen des Beschwerdeführers wie auch dessen Vertrauen auf Diskretion des ihm bestellten Verteidigers (vgl. BGE 138 IV 161 E. 2.5.4; 117 Ia 341 E. 6a; je mit Hinweisen). Bereits aus diesem Grund muss davon ausgegangen werden, dass der Verteidiger mit dem Berufungsrückzug primär nicht die Interessen seines Mandanten vertrat, sondern vielmehr darum besorgt war, durch eine Berufung etwaigen Erwartungen nicht gerecht zu werden. Wäre es dem Verteidiger unzumutbar gewesen, unter den gegebenen Umständen den Standpunkt des Beschwerdeführers vor der Berufungsinstanz zu vertreten, hätte er die Verfahrensleitung um Entlassung aus dem amtlichen Mandat ersuchen können, wobei er sich aufgrund der Treue- und Geheimhaltungspflichten der für den Beschwerdeführer belastenden Umstände zu enthalten gehabt hätte (vgl. HAEFELIN, a.a.O., S. 170) [E. 4.2].

Das schlägt soweit ich mich erinnere alles, was mir in den letzten 25 Jahren an Schlechtverteidigung begegnet ist. Der “Kollege” hat nicht nur seinen Klienten verraten. Er hat offengelegt, dass er seine Pflichten nicht verstanden hat und sich dabei auch noch strafbar gemacht haben könnte. Er hat eine wirksame Verteidigung verdient und wahrscheinlich auch bitter nötig. Eine Selbstverteidigung wäre mit der StPO kaum zu vertreten.