Bernisches Unrecht

Im Kanton Bern macht sich strafbar, wer der Polizei seinen Namen “auf berechtigte Aufforderung hin” nicht bekannt gibt (Art. 15 KStrG). Das wurde einem Mann zum Verhängnis, der in Biel eine Polizeiaktion mit dem Mobiltelefon gefilmt hatte und dann nach seinen Personalien gefragt wurde. Das Obergericht BE hat den Sachverhalt wie folgt und für das Bundesgericht (BGer 6B_74/2020 vom 24.09.2020, Fünferbesetzung) verbindlich festgestellt:

Die Vorinstanz führt aus, die beiden Polizeibeamten hätten die Personalien des Beschwerdeführers feststellen wollen und ihn mehrmals aufgefordert, seinen Namen zu nennen bzw. seine Identitätskarte zu zeigen. Er habe den Ausweis schlussendlich hervorgeholt, diesen jedoch mit den Fingern verdeckt gehalten. Er habe die Herausgabe bis zum Schluss verweigert und habe zur Abklärung der Personalien auf den Polizeiposten mitgenommen werden müssen (Urteil S. 6).  Die Polizisten seien zur Feststellung der Identität gestützt auf Art. 215 Abs. 1 lit. a i.V.m. Abs. 2 lit. a und b StPO berechtigt gewesen [E. 2.2]. 

Vor Bundesgericht streitig war offenbar primär die Sperrwirkung von “ne bis in idem”, die das Bundesgericht verneint hat (erstinstanzlich war ein Freispruch wegen Hinderung einer Amtshandlung erfolgt). Seine Rechtsprechung zur Sperrwirkung von Teileinstellungsentscheiden fasst das Bundesgericht wie folgt zusammen:

Nach der neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist die nicht angefochtene und damit rechtskräftige Teileinstellung – auch wenn sie nicht hätte verfügt werden dürfen – nicht einfach inexistent. Die Sperrwirkung einer fehlerhaften, aber infolge Nichtanfechtung in Rechtskraft erwachsenen Teileinstellungsverfügung erfasst die Tat vielmehr unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt und lässt eine Verurteilung wegen des gleichen Lebenssachverhalts nicht zu. Es besteht ein Verfahrenshindernis im Sinne von Art. 329 Abs. 1 lit. c StPO (Urteil 6B_56/2020 vom 16. Juni 2020 E. 1.5.1 mit Hinweisen) [E. 2.4].

Die Sperrwirkung wurde verhindert, indem das erstinstanzliche Gericht drei separate Lebenssachverhalte bildete: (1) Weiterfilmen trotz polizeilicher Aufforderung zur Distanzierung, (2) Weigerung der Namensnennung und (3) physische Gegenwehr bei Ankündigung der Mitnahme auf den Polizeiposten. Der Freispruch erging auf die Sachverhalte 1 und 3, so jedenfalls die Meinung des Obergerichts und auch des Bundesgerichts. Diese Meinung ist schon deshalb nicht allzu überzeugend, weil die erste Instanz einen Würdigungsvorbehalt (Art. 344 StPO) vorgenommen hatte, der ja nur bei identischem Sachverhalt überhaupt erst Sinn macht. Dies korrigierte das Obergericht “formaliter”, was auch immer darunter zu verstehen ist. Aus dem erstinstanzlichen Dispositiv war jedenfalls nicht ersichtlich, wieso trotz Einstellung ein Schuldspruch erging. Das Bundesgericht (und wohl auch schon das Obergericht) hat es aber herausgefunden:

Nicht aus dem Dispositiv, wohl aber aus der bei der Auslegung des Dispositivs heranzuziehenden Urteilsbegründung ergibt sich unmissverständlich, dass vom erstinstanzlichen Freispruch einzig die Lebensvorgänge (1) und (3) erfasst wurden und der Beschwerdeführer von der Erstinstanz ausdrücklich wegen Verweigerung der Namensangabe i.S.v. Art. 15 KStrG schuldig erklärt wurde (erstinstanzliches Urteil S. 22) [E. 2.5.1].

Zu prüfen war noch die eigentlich spannendste Frage, ob der Kanton Bern überhaupt befugt war, die Verweigerung der Namensnennung unter Strafe zu stellen. Dazu das Bundesgericht:

Den Kantonen bleibt die Gesetzgebung über das Übertretungsstrafrecht insoweit vorbehalten, als es nicht Gegenstand der Bundesgesetzgebung ist; die Kantone sind befugt, die Widerhandlungen gegen das kantonale Verwaltungs- und Prozessrecht mit Sanktionen zu bedrohen (Art. 335 Abs. 1 und 2 StGB).  Die eidgenössische Ordnung betreffend die strafbaren Handlungen gegen die öffentliche Gewalt der Art. 285 ff. StGB ist nicht abschliessend (Urteil 6B_1297/2017 vom 26. Juli 2018 E. 2.2.2 mit Hinweisen, publ. in: SJ 2019 I 229). Insbesondere verstösst ein kantonalrechtlicher Übertretungsstraftatbestand wegen “Ungehorsams gegenüber der Polizei” nicht gegen Bundesrecht (BGE 81 IV 163 E. 3 S. 166). Blosser Ungehorsam erfüllt den Tatbestand von Art. 286 StGB regelmässig noch nicht (BGE 81 IV 163 E. 2 S. 164), erforderlich ist grundsätzlich ein aktives Störverhalten (BGE 133 IV 97 E. 4.2 S. 100 sowie E. 6 ff. S. 103 ff. zur Abgrenzung der Selbstbegünstigung), d.h. ein Störverhalten von gewisser Intensität (BERNHARD ISENRING, in Andreas Donatsch et al., StGB/JStG, Kommentar, 20. Aufl. 2018, Rz. 1c zu Art. 286 StGB mit Hinweis auf BGE 133 IV 97 E. 4.2 S. 100). Nach dieser Rechtsordnung sind die Kantone befugt, die Weigerung, auf gerechtfertigte Anordnung eines Polizeibeamten die Identität offenzulegen (“le refus de décliner son identité, sur ordre justifié d’un agent de police”), mit Busse zu ahnden (Urteil 6B_1297/2017 vom 26. Juli 2018 E. 2.3). [E. 2.5.2, Hervorhebungen durch mich].

Nach dieser “Rechtsordnung”? Meint das Bundesgericht vielleicht nach dieser “Rechtsprechung”? Na jedenfalls scheint es zulässig zu sein, nach Bundesrecht erlaubtes Handeln kantonalrechtlich unter Strafe zustellen. Die verfassungsrechtlichen Aspekte kommen im Entscheid des Bundesgerichts nicht vor, waren möglicherweise in der Laienbeschwerde auch nicht gerügt.

Nicht einmal diskutiert wurde die Frage, weshalb die Polizei berechtigt gewesen sein soll, den Beschwerdeführer zur Angaben seiner Personalien aufzufordern. Der lapidare Hinweis der Vorinstanz auf Art. 215 Abs. 1 lit. a i.V.m. Abs. 2 lit. a und b StPO reicht schon deshalb nicht, weil es ja nicht um die Aufklärung einer Straftat ging. Der Mann hat einfach die Polizeiaktion auf dem Bahnhofplatz in Biel gefilmt.

Und noch etwas: Teil des Spruchkörpers war eine Richterin, die zur Zeit des erstinstanzlichen Urteils noch Gerichtspräsidentin des verurteilenden Gerichts und nebenamtliche Richterin am Berufungsgericht war. Sie hat – das nehmen wir jetzt einfach einmal an – an den beiden kantonalen Urteilen nicht mitgewirkt. Dass sie dagegen am Bundesgerichtsentscheid mitwirkte dürfte auch nur in der Schweiz überhaupt denkbar sein. Wie sie am Bundesgericht gestimmt hat, ist in der Schweiz bekanntlich geheim.

Der Entscheid hinterlässt zahlreiche Fragen, auch jene nach der langen Dauer zwischen Urteil und Publikation des begründeten Urteils. Wenigstens hat das Bundesgericht auf die Erhebung von Kosten für das bundesgerichtliche Verfahren verzichtet. Das ist aber ein schwacher Trost für ein schwer verdauliches Urteil.