Unfaires Strafbefehlsverfahren in Zug

Das Bundesgericht erklärt einen schriftlichen Verzicht auf die Einsprache gegen einen Strafbefehl für unwirksam (Art. 3 StPO und 6 Ziff. 1 EMRK). Den Sachverhalt fasst das Bundesgericht wie folgt zusammen (BGer 6B_657/2022 vom 20.09.2023):

Vorliegend wurde der Strafbefehl vom 18. August 2021 dem sich infolge seiner vorläufigen Festnahme (vgl. Art. 217 ff. StPO) in Polizeigewahrsam befindenden Beschwerdeführer persönlich gegen Empfangsbestätigung ausgehändigt, was in Art. 85 Abs. 2 StPO als Form der Zustellung ebenfalls vorgesehen ist. Die Übersetzung des Strafbefehls erfolgte gemäss der Vorinstanz anlässlich der Aushändigung des Strafbefehls mündlich durch den polizeilichen Sachbearbeiter. Damit wurde dem Beschwerdeführer der Strafbefehl formell zwar schriftlich eröffnet. Da er der deutschen Sprache nicht mächtig war, wurde er anlässlich der Übergabe des Strafbefehls am 18. August 2021 letztlich jedoch bloss mündlich über den Inhalt des gegen ihn ergangenen Strafbefehls informiert. Weiter wurde dem Beschwerdeführer zusammen mit der zu unterzeichnenden Empfangsbestätigung auf dem gleichen, eine A4-Seite umfassenden Schriftstück in einem separaten Abschnitt eine Verzichtserklärung mit folgendem Wortlaut zur Unterschrift unterbreitet: “A. erklärt ausdrücklich den Verzicht, gegen den vorliegenden Strafbefehl Einsprache oder anderweitige Rechtsmittel einzulegen[,] und hat verstanden, dass der Strafbefehl damit sofort zum rechtskräftigen und vollstreckbaren Urteil wird”. Der Beschwerdeführer unterzeichnete auch diese Verzichtserklärung, welche ihm gemäss der Vorinstanz vom zuständigen Polizeibeamten mündlich auf Englisch übersetzt wurde (E. 1.4).

Dies würdigt das Bundesgericht so:

Diese Kombination aus persönlicher Aushändigung des Strafbefehls mit mündlicher Übersetzung und aktivem Hinwirken der Polizei auf einen Einspracheverzicht durch den inhaftierten und nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer anlässlich der Übergabe des Strafbefehls durch Vorlage einer vorgedruckten Verzichtserklärung widerspricht dem Fairnessgebot. Dadurch wurde dem Beschwerdeführer die Möglichkeit genommen, von der zehntägigen Bedenkfrist für die Einsprache Gebrauch zu machen, die Konsequenzen des Strafbefehls nach dessen Eröffnung in Ruhe zu analysieren, allenfalls einen Anwalt beizuziehen und aus freien Zügen auf eine Einsprache zu verzichten. Ein solches Vorgehen verstösst gegen den u.a. in Art. 3 StPO sowie Art. 6 Ziff. 1 EMRK verankerten Anspruch auf ein faires Verfahren, da die Strafverfolgungsbehörde, indem sie das Thema der Verzichtserklärung aufgreift und der beschuldigten Person eine vorgedruckte Verzichtserklärung vorlegt, welche diese ohne Bedenkfrist anlässlich der persönlichen Aushändigung des Strafbefehls unterzeichnen soll, direkten Einfluss auf die beschuldigte Person im Hinblick auf einen Einspracheverzicht ausübt und zumindest subtil zum Ausdruck bringt, dass ein solcher erwünscht ist. Für eine solche behördliche Einflussnahme auf den Einspracheverzicht gibt es zudem keinen sachlichen Grund, wenn für die beschuldigte Person damit wie vorliegend keine Vorteile verbunden sind (E. 1.4, Hervorhebungen durch mich).

Ein wichtiger und überzeugend begründeter Entscheid in Dreierbesetzung.