Begutachtung und Teilnahmerechte

Das Bundesgericht weigert sich in einem neuen Grundsatzentscheid, Licht in die Dunkelkammer des forensisch-psychiatrischen Begutachtungsprozesses zu bringen (BGE 1B_520/2017 vom 04.07.2018, Publikation in der AS vorgesehen). Es besteht damit – jedenfalls dem Grundsatz nach – kein Anspruch auf Anwesenheit der Verteidigung bei der Exploration des Beschuldigten.

Die Begründung des Bundesgerichts überzeugt allerdings weder in der Sache noch formell, zumal prominente Lehrmeinungen einfach unterdrückt werden. Wirklich problematisch wird es aber, wenn das Bundesgericht zur Stützung seiner Rechtsprechung Autoren zitiert, die eine andere Meinung vertreten.

Das Urteil enthält aber auch erstaunliche Feststellungen, die man als Verteidiger gerne zur Kenntnis nimmt. Als ob die Frage nie umstritten gewesen wäre, sagt das Bundesgericht etwa:

Zunächst ist festzustellen, dass eine forensisch-psychiatrische Begutachtung im Strafverfahren in die Grundrechte der beschuldigten Person eingreift (Art. 10 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 1 BV) und dass auch der Anspruch auf ausreichende Verteidigung grundrechtlich verankert ist (Art. 32 Abs. 2 Satz 2 BV, Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK) [E. 1.2, Hervorhebungen durch mich].

Das weisen bspw. die Vollzugsbehörden regelmässig als unsinnig zurück.

Sehr bemerkenswert ist auch der Hinweis, dass Äusserungen des Beschuldigten im Explorationsgespräch nicht als Beweisaussage vorgehalten werden dürfen (“im Verhör”).

Das im vorliegenden Fall streitige Explorationsgespräch des forensisch-psychiatrischen Experten erfüllt einen anderen gesetzlichen Zweck. Es bildet Bestandteil der gutachterlichen Sachverhaltsermittlung und soll dem Experten ermöglichen, sich ein von den übrigen Verfahrensbeteiligten möglichst unbeeinflusstes Bild über die laut Gutachtensauftrag zu prüfenden medizinisch-psychiatrischen Fachfragen zu verschaffen (…). Die sachverständige Person nimmt ausschliesslich  fachspezifische Erhebungen vor, “die mit dem Auftrag in engem Zusammenhang stehen” (Art. 184 Abs. 4 StPO). Eine eigene Befragung des Beschuldigten durch die sachverständige Person ist somit eng gutachtensorientiert (…). Folglich dürfen die Strafbehörden Äusserungen des Beschuldigten bei einem psychiatrischen Explorationsgespräch diesem auch nicht wie Beweisaussagen zum inkriminierten Sachverhalt (im Verhör) vorhalten (Art. 157 StPO) [E. 3.7, Hervorhebungen durch mich].

Da werden Richter und Staatsanwälte aber kurz zusammenzucken.

Am Schluss sei noch darauf hingewiesen, dass das Bundesgericht eine Hintertür eingebaut zu haben scheint, denn vielleicht ist ja beispielsweise die Strafrechtliche Abteilung in einem konkreten Einzelfall (vielleicht dereinst sogar im selben Fall, der zu diesem Entscheid führte) anderer Meinung als die erste öffentlich-rechtliche Abteilung im Grundsatz (man beachte dabei, was das Bundesgericht von Lehrmeinungen hält):

Die abweichenden Meinungsäusserungen einiger Autoren setzen sich mit diesen Unterschieden und der einschlägigen gesetzlichen Regelung nicht ausreichend auseinander und vermögen daher nicht zu überzeugen. Ein Teil der Lehre spricht sich allerdings mit prüfenswerten Argumenten (insbesondere unter den Gesichtspunkten des “fair trial” bzw. des Anspruches auf ausreichende Verteidigung) für die  ausnahmsweise Zulassung der Verteidigung beim Explorationsgespräch aus, sofern im Einzelfall  stichhaltige besondere Gründe dafür sprechen (vgl. z.B. Heer, BSK StPO, Art. 185 N. 36; Oberholzer, a.a.O., Rz. 823).
Der Beschwerdeführer legt keine hinreichenden sachlichen Gründe dar, weshalb es sich im vorliegenden Fall von Grundrechts wegen -etwa zur Wahrung seines rechtlichen Gehörs – ausnahmsweise aufdrängen würde, die Teilnahme- und Anwesenheitsrechte (im Sinne von Art. 147 und Art. 158 f. StPO) auf die Erstellung der fraglichen Expertise (Art. 185 StPO) auszudehnen (E. 3.8, Hervorhebungen durch mich).
Tja, nicht jede Lehrmeinung ist prüfenswert.